Die Entwicklung der Lage seit dem 21. 6. ist folgende: Am 21. 6. hat sich das neue Kabinett in der bekannten Zusammensetzung unter Vorsitz des Ministers Bauer gebildet.
Am gleichen Tage hat dieses Kabinett den Entschluß gefaßt, eine neue Note an die Entente abzusenden, in welcher einerseits unsere Bereitschaft zu[r] Unterzeichnung des Friedens erklärt, in der jedoch andererseits die Schuld- und Auslieferungsparagraphen abgelehnt wurden. Der genaue Wortlaut dieser Note ist der OHL bisher noch nicht bekannt geworden4.
Am 22. 6. fand diese Note in der Nationalversammlung die Billigung der Mehrheit mit 237 gegen 138 Stimmen bei 5 Stimmenthaltungen.
Damit erhielt das Kabinett die Ermächtigung, den Frieden auf obiger Grundlage abzuschließen.
Major von Feldmann6 ist der Ansicht, daß hiermit und in Verbindung mit dem Vertrauensvotum, welches der Regierung mit 236 gegen 89 Stimmen bei 68 Stimmenthaltungen ausgesprochen wurde, das Kabinett vielleicht auch Blankovollmacht zur Unterzeichnung jedes Friedens erhalten habe; sicher sei es aber nicht.
Am 22. 6. nachm[ittags] 4.00 [Uhr] ist die angenommene Note nach Versailles abgegangen und anschließend überreicht worden.
In der Nacht vom 22. 6. zum 23. 6. um 1 Uhr vorm[ittags] teilte mir im Auftrage des Reichspräsidenten der Gesandte Nadolny telephonisch mit, daß die Entente unsere Vorbehalte zurückgewiesen habe. Die OHL werde um Stellungnahme zu der nunmehr geschaffenen Lage gebeten.
2.15 [Uhr] vorm[ittags] ist folgende Stellungnahme, vom Generalfeldmarschall [Hindenburg] unterschrieben, an die Regierung abgegangen:
„An Reichspräsident Ebert, Weimar, Schloß:
Am 20. 6. ist dem Herrn Reichswehrminister folgende Erklärung übersandt:
Gr[oßes] H[aupt] Qu[artier], den 17. Juni 19
Wir sind bei Wiederaufnahme der Feindseligkeiten militärisch in der Lage, im Osten die Provinz Posen zurückzuerobern und unsere Grenzen zu halten. Im Westen können wir bei ernstlichem Angriff unserer Gegner angesichts der numerischen Überlegenheit der Entente und deren Möglichkeit, uns auf beiden Flügeln zu umfassen, kaum auf Erfolg rechnen.
Ein günstiger Ausgang der Gesamtoperationen ist daher sehr fraglich, aber ich muß als Soldat den ehrenvollen Untergang einem schmählichen Frieden vorziehen.
gez. v. Hindenburg.’
Außerdem ist bei einer Besprechung in Weimar am 19. 6. von allen anwesenden Kommandobehörden dem Herrn Reichswehrminister gegenüber zum Ausdruck gebracht, daß eine große Anzahl von Offizieren und Freiwilligentruppen einer Regierung die Dienste aufsagen würden, die die Schmachparagraphen annimmt. Bei dieser Kundgebung waren zugegen: der Preußische Kriegsminister, die OHL, die OKs Nord und Süd, die Armeegruppe Below, das Generalk[omman]do Lüttwitz, die Obersten Militärbefehlshaber von Bayern und Sachsen und der Chef der Admiralität. An dieser Stellungnahme der OHL hat sich seitdem nichts geändert.
Am 23. 6. gegen 10.30 [Uhr] vorm[ittags] meldete Major v. Feldmann aus Weimar folgendes:
„1. Der Reichswehrminister ist nach Weimar zurückgekehrt.
2. Beim Reichspräsidenten Erklärung von heute nacht wiederholt, daß die OHL auf ihrem Standpunkt bestehen bleibt und Offiziere der OHL und der höheren K[omman]dobehörden ihren Dienst niederlegen würden, wenn der Friede ohne Einschränkung angenommen wird.
Der Reichspräsident sagte darauf, daß er diese Erklärung erwartet habe und schildert[e] die Lage so, daß wahrscheinlich Zentrum und Sozialdemokraten die Annahme des Friedens erklären würden; doch sei dies noch nicht sicher.
Major v. Gilsa erläuterte die militärische Lage dahin, daß die Truppen jedenfalls in ihrer großen Masse sich der Haltung der Regierung nicht anschließen könnten und daß General v. Lüttwitz die Stellungnahme der OHL teile.
Der Osten würde wohl sicher den Kampf aufnehmen. Der Minister Noske überlegte eine Weile, dann sprang er sehr erregt auf und rief: „Nein!“ und verließ das Zimmer. Er betrat darauf bald wieder das Zimmer im Verein mit sämtlichen Ministern. Die Majore v. Gilsa und v. Feldmann wurden daraufhin entlassen. Zur Zeit sind Sitzungen innerhalb der einzelnen Fraktionen. Um 12 Uhr findet Kabinettssitzung statt.
3. General v. Lüttwitz hat vorhin dem Reichswehrminister telephonisch mitgeteilt, daß er und seine Offiziere noch nicht darüber schlüssig seien, ob es augenblicklich angezeigt sei, den Abschied zu nehmen, denn es bestände die Gefahr, daß die führerlosen Truppen bolschewistisch würden. Es sei aber mit Sicherheit zu erwarten, daß die Masse der guten Truppen im Falle der Annahme Stellung gegen die Regierung nehmen würde. General v. Lüttwitz würde es sehr bedauern, wenn sich diese Stellungnahme auch gegen den Minister Noske richten müßte. Nach diesem Gespräch hat Major v. Gilsa mit Minister Noske gesprochen und ihn dringend gebeten, diese Schicksalsstunde des deutschen Volkes nicht vorübergehen zu lassen, ohne seinerseits die Führung in die Hand zu nehmen. Es sei sicher, daß bei Annahme des Friedens einerseits damit zu rechnen sei, daß die Unabhängigen sich zur Regierung drängen würden und daß andererseits heftige Militärrevolten gegen die Regierung möglich und wahrscheinlich seien. Dieses Gespräch ist anscheinend nicht ohne Eindruck auf Minister Noske geblieben.
Er ist augenblicklich allein auf seinem Zimmer und geht mit sich zu Rate.“
Kurz vor 12 Uhr mitt[ags] telephonierte mich der Reichspräsident persönlich an16 und teilte mir mit ähnlichen Worten mit, daß Zentrum und Sozialdemokraten sich wahrscheinlich für die Annahme erklären würden. Er bat nochmals um Auskunft, welche Stellung die Truppen dazu nehmen würden, man befürchte nach den Mitteilungen des Generals v. Lüttwitz an den Reichswehrminister Militärrevolten.
„An Reichspräsident Ebert.
Major v. Feldmann meldet mir soeben seine und Gilsas Unterredung mit Ihnen und Noske. Nicht als I. Generalquartiermeister, sondern als Deutscher, der die Gesamtlage klar übersieht, halte ich mich für verpflichtet, dem Herrn Reichspräsidenten folgenden Rat zu geben:
1. Kampf nach vorübergehenden Erfolgen im Osten im Enderfolg aussichtslos.
2. Minister Noske muß die Führung des Volkes und die Verantwortung für den Friedensschluß übernehmen.
3. Nur wenn er – Noske – in einem öffentlichen Aufruf die Notwendigkeit des Friedensschlusses darlegt und von jedem Offizier und Soldaten verlangt, daß er auch bei Unterzeichnung des Friedens im Interesse der Rettung unseres Vaterlandes auf seinem Posten bleibt und seine Pflicht und Schuldigkeit gegenüber dem Vaterlande tut, besteht Aussicht, daß das Militär sich hinter ihn stellt und damit jede neue Umsturzbewegung im Innern, sowie Kämpfe nach außen im Osten verhindert werden.“20
„An General Groener.
Telegramm E[uer] E[xzellenz] an Reichspräsident hat erheblich auf Entscheidung eingewirkt. Zentrum war schon auf Grund der früheren Erklärungen der Offiziere für Ablehnung gewonnen. Kabinett ist für Unterzeichnung. Noske überstimmt, bleibt aber zur Vermeidung des Chaos. Es soll in Nationalversammlung ein Aufruf an Offiziere zum Ausharren angenommen werden. Kriegsminister unverändert auf seinem früheren Standpunkt. Er beabsichtigt zur Ehrenrettung der Offiziere besondere Maßregel. Er rechnet bei Annahme des Friedens mit Abfall des Ostens und feindlichem Einmarsch. Kriegsminister und Noske fahren heute wieder nach Berlin.
gez. Major v. Feldmann.“
Um 5 Uhr nachm[ittags] wurde nachstehende von allen Parteien der Nationalversammlung, also auch der Unabhängigen, einstimmig gefaßte Kundgebung an die Wehrmacht durch Fernschreiber hierher übermittelt:
„In der Stunde tiefsten vaterländischen Unglücks dankt die Deutsche Nationalversammlung der deutschen Wehrmacht für die opfervolle Verteidigung der Heimat. Ungeheure und niederdrückende Anforderungen stellt der trotz des Heldenmutes unserer Truppen aufgezwungene Frieden an alle Teile des Volkes, besonders schwere aber an das Ehrgefühl unserer Soldaten. Das deutsche Volk erwartet zuversichtlich, daß Heer und Marine, Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften, treu ihrer großen Vergangenheit, in dieser schwersten Zeit ein Beispiel der Selbstverleugnung und Aufopferung geben und Hand in Hand mit den anderen Volksgenossen an der Wiederaufrichtung unseres Vaterlandes arbeiten werden. Es muß gelingen, wenn alle ihre vaterländische Pflicht erfüllen.“
Ich habe eine große Verantwortung mit diesem Schritt auf mich genommen, die ich zu tragen wissen werde.
Wie die weitere Entwicklung gehen wird, ist unbestimmt. Es können sowohl Unruhen, wie Militärrevolten in Berlin ausbrechen, auch der Kampf im Osten ist möglich.
Wir müssen zwei Fälle unterscheiden:
1. Bricht der Kampf im Osten aus, trotz Unterzeichnung des Friedens, steht es dahin, wie sich die Entente verhalten wird. Der Einmarsch im Westen ist auch dann möglich, doch ist es fraglich, ob dieser Einmarsch die gleiche Bereitwilligkeit bei den Ententetruppen finden wird, wenn diesen die Friedensbereitschaft unserer Regierung bekannt wird. Fraglich ist auch, ob in diesem Falle Engländer und Amerikaner mitmarschieren werden.
2. Es wurde befürchtet, daß im Innern Unruhen und Aufstände revolutionärer und bolschewistischer Natur ausbrechen werden26. Ich glaube nicht daran, auf jeden Fall nicht an Aufstände von erheblichem Umfange, um so weniger, als die Unabhängigen sich an der Erklärung der Nationalversammlung von heute beteiligt haben.
Die nächste Zukunft liegt dunkel vor uns. Wann die Stunde kommen wird, in der sich das deutsche Volk aus seiner nationalen Verlumpung emporrafft, um wieder einmütig zusammenzustehen und einzutreten in den Kampf nach außen für Ehre und Würde, für die zukünftigen Geschlechter, steht noch dahin. Ich glaube nicht, daß dies in absehbarer Zeit der Fall sein kann.
In der Besprechung in Weimar am 19. 6. habe ich mich bereit erklärt, den Kampf wieder aufzunehmen, wenn der Kriegsminister in der Lage wäre, mir hierzu 1.000.000 Soldaten zur Verfügung zu stellen. Der Kriegsminister hat jedoch dies für unmöglich erklärt, auch darauf hingewiesen, daß die Verpflegung solcher Massen größte Schwierigkeiten bereiten würde und [daß] deshalb auch von einer Zusammenziehung größerer Massen hinter der Elbe abgesehen werden müsse.
Angesichts dieser Lage und der Unmöglichkeit, unsere Volkskraft zu ernstlichem Kampf aufzurufen, erachte ich alle schönen Reden für Torheit, die Wiederaufnahme des Kampfes für Wahnsinn. Ein solcher Entschluß würde nicht nur erhebliche Blutverluste, die Zerstörung weiter blühender Gebiete und Industriezentren, langjährige feindliche Besetzung für unser Wirtschaftsleben wichtiger Gebiete nach sich ziehen, sondern meiner festen Überzeugung nach einen restlosen Vernichtungskrieg Frankreichs gegen Deutschland zur Folge haben.
Dies, meine Herren, ist meine Auffassung. Die Beurteilung überlasse ich Ihnen.
Quelle: Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Das Kabinett Bauer, Band 1, Nr. 3
bearbeitet von Anton Golecki, Boppard am Rhein 1980, online abrufbar unter www.bundesarchiv.de