Zur Wahrnehmung der Interessen des Rheinisch-westfälischen Industriegebiets ist am 31. Januar d. J. von einer großen, alle in der Nationalversammlung vertretenen politischen Parteien und alle wirtschaftlichen Gruppen des Gebiets umfassenden Versammlung ein besonderer Ausschuß berufen worden. Die bisherige Betätigung der Bewegung ergibt sich aus der als Anlage 1 beigefügten Entschließung vom 31. Januar und dem als Anlage 2 beigefügten Pressebericht über eine Zusammenkunft am 7. Februar. Hierzu treten zahlreiche Kundgebungen von Stadtverordnetenversammlungen, Handelskammern usw. im Sinne der Entschließung vom 31. Januar. Der also gebildete hier unterzeichnete Ausschuß entnimmt aus Nachrichten, die ihm unmittelbar oder mittelbar aus feindlicher Quelle zugegangen sind, daß die Feinde eine Gestaltung der Dinge Westdeutschlands erstreben, die für Deutschland und namentlich auch für den Rheinisch-westfälischen Industriebezirk schlechterdings unerträglich ist. Den äußeren Umrissen nach scheinen die Pläne neben einer Abtretung des Saarkohlenbeckens und des Wurmkohlenreviers an Frankreich die Bildung eines Pufferstaats zu bezwecken, der etwa den Grenzen der Rheinprovinz folgt, wenigstens im nördlichen Teil, und mithin den Industriebezirk in zwei Abschnitte zerschneiden würde; der Pufferstaat soll anscheinend wirtschaftlich völlig nach Frankreich gerichtet werden und zwar so, daß er entweder sofort oder nach Ablauf einer Reihe von Jahren in das französische Zollgebiet mehr oder weniger vollkommen einbezogen und eine Zollgrenze zwischen dem Pufferstaat und dem Rest des deutschen Reiches errichtet wird.
Die Verwirklichung solcher oder ähnlicher Gedanken würde das vollkommene Absterben der Industrie Rheinlands und Westfalens, die der Nährboden der gesamten Bevölkerung des Bezirks ist, zur Folge haben. Dieses Absterben würde auch denjenigen Teil des Industriebezirks treffen, der beim Rest des deutschen Reiches verbleiben würde, da der Industriebezirk wirtschaftlich gar nicht nach Teilen behandelt werden kann. Zahlreiche große industrielle Unternehmungen würden dann fast alle hüben und drüben der Grenzen liegen, und die Zusammenhänge, die die Leistungsfähigkeit der Werke ausmachen, wären zerstört.
Sollte der feindliche Plan aber die Gestalt annehmen, daß nur das linke Rheinufer einen besonderen Staat zu bilden hätte unter sogenannter Internationalisierung des Rheinstroms nebst Kontrolle auch über die rechtsrheinischen Häfen, so bedeutet auch dieser Plan eine Zerreißung des Industriebezirks, der mit wesentlichen Anlagen auf das linke Rheinufer hinübersetzt. Sicher aber vernichtet eine solche Gestaltung der Dinge mit ihrer Absperrung vom Rhein die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Industriebezirks und zwar gleichgültig, ob dem linksrheinischen Staat das äußere Gesicht einer gewissen Selbständigkeit gewahrt wird oder nicht. Übrigens dürfte die in der Presse jetzt vielfach auftauchende Form des linksrheinischen Uferstaates in der Sache mit dem zuerst geschilderten Pufferstaatgedanken sich wesentlich decken, da stets die wirtschaftliche Lahmlegung des rechten Rheinufers gleichzeitig gefordert oder vorausgesetzt wird.
Die Sorge, daß der Pufferstaatgedanke in der angedeuteten Gestalt Verwirklichung[44] findet, ist umso größer, als er denjenigen Teilen des deutschen Reiches, die der Gefahr ausgesetzt sind, unmittelbar zu Frankreich gezogen zu werden, also wo nicht dem ganzen linken Rheinufer, so doch in Sonderheit dem Saarkohlenbecken und dem Wurmkohlenbezirk, als eine Art Notrettung gegenüber einer noch größeren Gefahr erscheinen könnte. Der Plan könnte deshalb möglicherweise im Laufe der Ereignisse von wichtigen Gruppen dieser Bezirke gefördert werden, die beim jetzigen Stande der Friedensverhandlungen das Gefühl haben, vom deutschen Reiche keine irgendwie zureichende Unterstützung zu empfangen.
Wir wissen nun selbstverständlich nicht, ob die von uns vorstehend geschilderten Einzelheiten zutreffen und haben die Einzeldarstellung auch nur um des Gesamtbildes willen gegeben. Das Gesamtbild aber zwingt uns, die Reichsregierung um Beantwortung folgender zwei Fragen zu bitten:
1. Kann sich der Rheinisch-westfälische Industriebezirk darauf verlassen, daß die deutsche Reichsregierung auf keinen Fall einem Friedensabschluß zustimmt, in dem das Industriegebiet durch Zerreißung seiner politischen oder wirtschaftlichen Einheit, Auslieferung an Frankreich oder Absperrung vom Rhein oder auf irgendeine andere Weise seiner Lebensfähigkeit beraubt wird?
2. Kann sich der Rheinisch-westfälische Industriebezirk darauf verlassen, daß keine Teile der Rheinprovinz oder der Pfalz, insbesondere nicht das Saarkohlenbecken und das Wurmkohlengebiet an Frankreich abgetreten werden, sondern daß Rheinprovinz und Pfalz politisch und wirtschaftlich ungeschmälert beim deutschen Reiche verbleiben?
Aus schwerster vaterländischer Sorge und in der Überzeugung, daß der Rheinisch-westfälische Industriebezirk äußersten Gefahren ausgesetzt ist, die allen, die in ihm wirken, die höchste Verantwortung auferlegen, richten wir an die Reichsregierung die dringende Bitte, uns beide Fragen, die unmittelbar oder mittelbar Lebensfragen für das Industriegebiet sind, mit größter Beschleunigung zu beantworten. Sollte die Regierung keine oder eine ausweichende Antwort erteilen, so müssen wir aus unserer genauen Kenntnis der örtlichen Verhältnisse und Stimmungen mit allem Ernst erklären, daß die Folgen nicht abzusehen sind. Die unbedingten Vertreter der Erhaltung eines einheitlichen deutschen Reiches wären dann den Gegenbestrebungen gegenüber ihrer besten Waffe beraubt.
Die bestehenden Verkehrsschwierigkeiten und die Notwendigkeit für uns, an Ort und Stelle zu bleiben, veranlassen uns, unsere Anfrage an die Reichsregierung in schriftlicher Form zu richten. Wir bitten deshalb auch um eine schriftliche Antworterteilung, die uns in die Lage versetzt, der Unruhe, die sich vielerorts zeigt, nach unseren besten Kräften im Sinne der für uns maßgebenden Entschließung vom 31. Januar entgegenzutreten, alsdann durch die innere Gewißheit gestützt, die eine schriftliche und unzweideutige Antwort uns geben würde4.
Nebenbei erklären wir uns bereit, eine kleine Abordnung zur mündlichen Erörterung mit der Reichsregierung zu entsenden. Die Antwort erbitten wir an den Oberbürgermeister von Essen.
Oberbürgermeister Dr. Luther, Essen, Generaldirektor Geheimer Baurat Beukenberg, Dortmund, Geheimer Kommerzienrat Böker, Remscheid, Handelskammersyndikus Dr. Brandt, Düsseldorf, Oberbürgermeister Dr. Eichhoff, Dortmund, Stadtverordneter Josef Ernst, Hagen i./W., Gewerkschaftssekretär Kloft, Stadtverordneter und Mitglied der Preußischen Landesversammlung, Essen, Stadtverordneter Klupsch, Mitglied der Preußischen Landesversammlung, Dortmund, Wilhelm Ullenbaum jun., Stadtverordneter, Elberfeld, Dr. Wiedfeldt, Vorsitzender der Handelskammer, Essen.
Quelle: Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Das Kabinett Scheidemann, Band 1, Nr. 11
bearbeitet von Hagen Schulze, Boppard am Rhein 1971, online abrufbar unter www.bundesarchiv.de