Aus dem Verhalten der Alliierten in letzter Zeit habe ich folgende Eindrücke gewonnen:
1. Die Taktik war bisher, uns durch übertriebene Forderungen, die oft nur in losem Zusammenhang mit dem Wa[ffenstillstands]-Vertrag oder seinen Zusätzen standen, zu überrumpeln, durch schroffe Befehlsform, Zeitbefristung und scheinbare Drohung mit Abbruch der Verhandlungen einzuschüchtern und so den wesentlichen Teil ihrer Forderungen durchzusetzen, wobei stets einseitige schriftliche Bindung erstrebt und leider oft erreicht wurde, da es gelang, uns mit mündlichen oder dehnbaren schriftlichen Zusicherungen abzuspeisen. Hierbei wurde häufig auch das Argument angewandt, daß es sich ja um eine Sache handle, die uns doch im Friedensvertrag auferlegt würde.
Diese Taktik ist hier erkannt. Man ist sich auch klar darüber, daß die Vorwegnahme von Leistungen, zu denen uns vielleicht der Friedensvertrag erst zwingen muß, im allgemeinen für uns ungünstig ist. Wir haben daher öfters ruhig abgelehnt und damit Zurückschrauben der ursprünglichen Forderungen erzielt. Die Alliierten haben dies wohl gemerkt. Sie umgehen deshalb gerne die Wako Spa und wenden sich neuerdings mit Kommissionen oder Sonderdelegierten unmittelbar an die deutschen Stellen, die sie gefügiger glauben und die dieser Taktik aus Unkenntnis tatsächlich vielleicht weniger Widerstand entgegensetzen.
Ich würde es daher für außerordentlich wünschenswert halten, alle Stellen, die mit Ententevertretern zu tun haben, eindringlich vor der reichlich plumpen Taktik unserer Gegner zu warnen. Wir werden nur dann uns vor weiteren Übervorteilungen schützen, wenn wir unbedingt und auf jede scheinbare Gefahr hin in unseren Leistungen uns auf die unterschriebenen schriftlichen Verpflichtungen beschränken. Zusagen untergeordneter Stellen müssen nach unseren Erfahrungen grundsätzlich als sachlich wertlos betrachtet werden. Diese Warnung gilt auch für die Zeit nach unterschriebenem Friedensvertrag.
2. Der Versuch, ohne Rücksicht auf den Wa[ffenstillstands]-Vertrag zu diktieren, Deutschland mit Kommissionen aller Art mit unabhängigen Nachrichtenverbindungen zu überschwemmen und damit immer unverhüllter in Form einer scheinbar harmlosen „Aufsicht“ (vgl. Art. V des Vertrages vom 11. 11.) die Fremdherrschaft einzurichten, wird immer deutlicher. Die heute überreichten beiden Noten – über neue Luftpostlinien und über Verpflegung Böhmens – sind ein ebenso schlagender Beweis dafür, wie das Verhalten von Noulens in Posen.
Ich bin überzeugt, daß wir mit Ablehnung solcher Eingriffe in unsere Hoheitsrechte meist ohne große Schwierigkeit durchdringen werden, zumal wenn wir, wie in den genannten drei Punkten, insofern eine entgegenkommende Haltung einnehmen können, als wir die Sache selbst zu den mit uns zu vereinbarenden Bedingungen übernehmen. Bei diesen Bedingungen muß allerdings der Grundsatz der deutschen Hoheitsrechte, der Gleichberechtigung und der Gegenleistung für jede von uns neu zu übernehmende Leistung unverrückbar und auf jede Gefahr hin festgehalten werden, wenn wir nicht allmählich und unmerklich zur staatlichen Abhängigkeit herabgedrückt werden wollen. Aus diesem Grunde halte ich es auch für äußerst wichtig, daß die Zahl und die Rechte der Deutschland überflutenden fremden Missionen beschränkt werden.
Gesandter v. Haniel teilt diese Auffassung.
Quelle: Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, Das Kabinett Scheidemann, Band 1, Nr. 13
bearbeitet von Hagen Schulze, Boppard am Rhein 1971, online abrufbar unter www.bundesarchiv.de