Ein philosophischer Leserbrief
Leserbriefe sind keine neuere Erfindung. Hier bringt der Lübecker Volksbote den Brief eines Erwerbslosen, der von seinen Erlebnissen bei Erwerbslosen-Versammlungen berichtet. Diese drohen vollends ins kommunistische Fahrwasser zu geraten, wenn MSPD und Freie Gewerkschaften nicht gegensteuern würden. Gleichzeitig macht sich der Schreiber Gedanken über den Zusammenhang von Alter und Ego. Wenn es gelänge die eigene Beschränktheit auf das Ich zu überwinden, dann würden auch die politischen Diskussionen sachlicher werden und Hass und Hetze abnehmen.
Volltext:
Sprechsaal.
(Für den Inhalt dieser Rubrik übernimmt die Redaktion dem Publikum gegenüber keinerlei Verantwortung.)
Erwerbslosen-Versammlungen.
Schwer lastet die Not der Zeit auf alle, schwerer noch auf die unglücklichen Opfer eines zerfahrenen wirtschaftlichen Systems: auf die Erwerbslosen aller Stände. Eine der ersten Errungenschaften unserer sozialistischen Regierung nach der politischen Staatsumwälzung war neben andern sozialen Fürsorgemaßnahmen die Einführung der Erwerbslosen-Unterstützung, wodurch die Not der wirtschaftlichen Uebergangszeit gelindert werden sollte. Ueber alle Teile unseres Reiches verteilten sich die Erwerbslosen und schlossen sich unter dem Zwange der obwaltenden Verhältnisse mehr und mehr zusammen. In größeren Städten, wo sie in höherer Zahl vertreten waren, wählten sie sich ihre Vertrauensleute: den Arbeitslosenrat, der nun die Forderungen seiner Mitglieder gegenüber den Staats- und Kommunalbehörden zu vertreten hatte. Und je nach Erfordernis der Lage war dann schnell eine Versammlung einberufen. Auch hier in Lübeck haben wir einen Erwerbslosenrat, ähnlich dem anderer Städte. Einsender dieser Zeilen, der bereits seit längerer Zeit erwerbslos ist, hat nun als stiller Beobachter lange Zeit hindurch allen Verhandlungen und Versammlungen sein ungeteiltes Interesse gewidmet und ist wohl in der Lage, ein subjektives Bild seiner Eindrücke zu geben. Da ist in erster Linie hervorzuheben, daß die sogen. Erwerbslosen-Versammlungen, von denen man doch glauben sollte, daß sie nur der Besserung der wirtschaftlichen Lage ihrer Mitglieder Rechnung tragen sollten, in weitaus größtem Maße der politischen Ausschlachtung nach der radikalen Seite dienen müssen. Es muß leider zugegeben werden, daß der Resonanzboden hierfür ein sehr guter ist, als viele Erwerbslose durch ihre Lage oder durch seelische Depressionen, hervorgerufen durch die schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse, ein sehr gefügiges Objekt zur Unterstützung ultraradikaler Forderungen abgeben. Alle die Erwerbslosen-Versammlungen, die hier in Lübeck in den letzten Wochen stattfanden, arteten stets nach kleinen Ansätzen zur Sachlichkeit in die politische Breite aus, und es braucht wohl nicht erst betont zu werden, daß das Ziel der Debatte stets Forderungen und Bestrebungen der kommunistischen Partei darstellten: was Wunder, wenn man bedenkt, daß die regelmäßigen Hauptredner dieser Versammlungen leitende Persönlichkeiten der kommunistischen Partei sind. Die Grundlagen ihrer Ausführungen suchen sie meistens in den Taten oder Handlungen der führenden Männer der Gewerkschaften oder höherer Verwaltungsstellen zu finden. Es bleibt nun bedauerlich, daß viele Gewerkschaftsangehörige, und solche sind doch ohne Zweifel viele Zuhörer, gezwungen werden, Teilnehmer von oft sehr gehässigen Anwerfungen verdienter Gewerkschaftsführer zu sein, ohne daß diesen Anschuldigungen entgegengetreten werden kann. Sollte es denn wirklich unmöglich sein, hier eine Besserung nach der Richtung eintreten zu lassen, daß zu den Erwerbslosen-Versammlungen auch Führer oder Vorstandsmitglieder freier Gewerkschaften erscheinen, die ein Gegenreferat übernehmen? Auf all diesen Versammlungen ist das Grundmotiv ein und dasselbe: an Stelle der sachlichen Diskussion und des Beweisens tritt man in das Stadium des Schimpfens und der persönlichen Verunglimpfung. Die Phrase feiert hier ihre höchsten Triumphe und der Verkündung kommunistischer Ideen, und der „Volksbote“ weist bereits mit Recht darauf hin, daß die Arbeiter bald erkennen müssen, für welche Forderungen die Straße manchmal in Anspruch genommen werden soll. Die logische Kritik der Diskussion wird durch Verhetzung abgelöst. Auf diesen Versammlungen hat der aufstrebende Menschengeist noch nicht seine Kunst entfaltet, die ihm innewohnt. Kritik soll und muß geübt werden, doch schließlich strebt alle Kritik dahin, dem Gegner seine Irrtümer aufzuzeigen. Dabei aber geht man auf der Erwerbslosen-Versammlung stets von einer ungleichen Schätzung aus. Der Wert des eigenen Ich wird noch immer zu viel über den des Gegners gestellt. Man erkennt die Willens- und Arbeitsfähigkeit des Gegners nie an, die in ihrer ethischen Ueberzeugungsform alle denkenden Kräfte in der kraftstrotzendsten, d.h. schonendsten Weise verwerten will. Der Fehler fast aller Redner unserer Erwerbslosen-Versammlungen liegt darin begründet, daß sie sich noch nicht von dem Gedanken gelöst haben, in ihrem Gegner „einen andern“ zu sehen, sie haben sich noch nicht daran gewöhnt – was man von politisch auftretenden Personen eigentlich erwarten sollte – , im Führer der Gegenpartei wie überhaupt in jedem lebenden und empfindenden Individuum einen Teil ihres Selbst anzuschauen. Am zweckdienlichsten würde es sein, wenn jeder Redner sich seines Persönlichkeitsanteils begäbe, und nur die Sache als reines Objekt abwägt, ohne zu bedenken, ob seine Person oder eine fremde dies Objekt zuerst aufgegriffen. Dann würde, wie es in den Wochen vor der Arbeiterratswahl bei uns in Lübeck leider oft geschehen, keine Person mehr angegriffen, sondern in ihrer Unantastbarkeit geschont, und dabei würde in echt demokratischem Geist die Kraft aller zum Wohle aller Arbeiter voll und ganz gewertet. Dann würde jeder mit einem Teile seines Selbst, gemeinsam arbeiten, um den großen Zusammenhang alles historisch Werdenden tiefer und zweckmäßiger sich vorzustellen. Man braucht absolut nicht auf ein bestimmtes Parteiprogramm zu schwören, um dieses Urteil auszusprechen, sondern als unparteiischer Beurteiler wird man unbedingt zu diesem Urteil kommen müssen, und als über den Parteileidenschaften stehender Mensch wird man sich über diese Erkenntnis freuen.
Ein Erwerbsloser.