Harry Graf Kessler: Erzberger, diese "dicke Person"!
Kessler formuliert deutliche Kritik an Matthias Erzberger, ob dessen vorgeblichen Urheberschaft zu einem Deutschen Völkerbundsentwurf, der eigentlich auf Ideen Kesslers basiert. Später trifft er sich mit Alex Bloch, mit dem er über seinen Entwurf diskutiert.
Volltext:
22. April. 1919 Dienstag. Berlin.
Heute im 12 Uhr Mittagsblatt steht, die Regierung werde einen „Deutschen Völkerbundsentwurf“ am Mittwoch Abend (also gleichzeitig mit meinem Vortrage im Herrenhause) veröffentlichen; zu den geistigen Vätern dieses Entwurfes gehöre Erzberger! Es handelt sich um den Schückingschen Entwurf, der auf meinen Ideen aufgebaut ist. Erzberger meldet aber seine Vaterschaft an! Seine dicke Person scheint ihm offenbar immer noch nicht berühmt genug. Nachmittags telephonierte Bernhard, um mich zu warnen; gestern Abend sei der Presse mitgeteilt worden, dass der Entwurf morgen, Mittwoch herauskäme. Ich gieng ins Amt u. sprach mit Romberg und Roediger. Dieser telephonierte Simons an, der sagte, vor meinem Vortrage und insbesondre morgen, werde Nichts herauskommen; Erzberger habe die Notiz in die Zeitung gesetzt. Dieser Hallunke will im voraus den Schein erwecken, dass sein grosser Geist wieder einmal Deutschland gerettet hat. Wer sein Machwerk von Völkerbunds Entwurf kennt, wird allerdings nicht auf diese Stimmungsmache hereinfallen. – Alex Bloch besuchte mich. Er besprach u kritisierte in anregender Weise meinen Entwurf. Um Pluralstimmen zu beseitigen, möchte er, dass eine „allgemeine Menschheitsliga“ gegründet werde, bei der sich Jeder anmelden könnte, der irgendeiner universalen Organisation angehört. Auf Grund seiner Zugehörigkeit zu dieser Liga bekäme Jeder eine Stimme. Dadurch würde ein Hauptvorteil meines Vorschlages fortfallen, die Abgabe der Stimme innerhalb der speziellen Organisation, die die Interessen oder Ideale des Stimmberechtigten verkörpert; die Intimität fiele fort. Die Menschen würden wieder atomisiert. – Simon Guttmann der Vormittags bei mir war, lobte gerade meine Preisgabe der Demokratie zugunsten der menschlichen Persönlichkeit, die in ihren lebendigen Teilen gefasst werde statt als blosse Zahl, wie beim demokratischen allgemeinen Stimmrecht. Er bezeichnete den Entwurf als eine gute Grundlage für Weiteres, einen Fort schritt, mit dem er sich als Kommunist im Prinzip einverstanden erklären könne. Die formale Demokratie bezeichnet er als eine Methode zur Ausschaltung der Persönlichkeit.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 235.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Erzberger#/media/File:Bundesarchiv_Bild_146-1989-072-16,_Matthias_Erzberger.jpg