Hugo Haase: Unsere Beziehungen zu den anderen Völkern
Hugo Haase fordert in der „Freiheit“ die sozialistischen Kräfte zur Obacht auf. Er warnt dabei vor der Kraft und der Heimtücke des Kapitalismus, der solange die Regierungen der meisten Völker dem Kapital verfallen sind, immer wieder Konflikte entstehen lassen werden. Seine Antwort auf diese Umstände ist die Internationale und deren „Durchdringung mit revolutionärem Geist“. Das vorgeblich oberste Ziel: „die Versöhnung aller Völker“.
Volltext:
Nirgends in der Welt ist das deutsche Volk beliebt, auch in den neutralen Staaten fehlt jeder warme Ton, wenn von dem Schicksal des deutschen Volkes gesprochen wird.
Die Hoffnung, daß der Uebergang von der Monarchie zur Republik Deutschland im Auslande Sympathien erwerben werde, hat getäuscht. Es fehlt der Glaube an eine innere Wandlung des deutschen Volkes.
Die Vertreter der großen Auslandszeitungen, die jahrelang vor dem Kriege in Deutschland gelebt haben und jetzt hierher zurückgekehrt sind, sprechen übereinstimmend die Ansicht aus, daß sich im wesentlichen nichts geändert habe. Oft genug fassen sie ihre Beobachtungen dahin zusammen, daß die Offizierskaste sich niemals so breit gemacht habe, wie jetzt, daß der militärische Geist nie so unangenehm hervorgetreten sei wie gegenwärtig.
Die aufdringlich, üppig wuchernde Werbereklame für die Freiwilligenkorps hat im Auslande den Eindruck hervorgerufen, daß auf diesem Wege ein auch für aktive militärische Betätigung nach außen geeignetes Heer geschaffen werden soll.
Die Vertreibung der demokratischen Regierung in Libau durch deutsch-lettische Legionäre, die nur dem Interesse der baltischen Barone dient, wird als eine Fortsetzung der alten reaktionären Auslandspolitik betrachtet werden.
So wird der Haß aller demokratischen und revolutionären Elemente gegen Deutschland geradezu gezüchtet.
Die russische Sowjetrepublik hat in einem Funkspruch „An Alle“ mit aller Deutlichkeit versichert, daß sie in Freundschaft mit dem deutschen Volke leben wolle und daß sie nicht daran denke, in Deutschland einzufallen. Das deutsche Proletariat hat nicht nur eine begreifliche Sympathie für die sozialistische Arbeiterrepublik, sondern auch das instinktive Gefühl, daß eine freundschaftliche Verbindung zwischen dem deutschen und dem russischen Volk zur Wiederaufrichtung des deutschen Wirtschaftslebens dringend erforderlich ist.
Die deutsche Regierung treibt ein Doppelspiel, das ihre Politik von neuem mit dem Fluch der Unehrlichkeit belastet. Sie verkündet durch den Mund des Reichswehrministers Noske und des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten v. Brockdorff-Rantzau, daß sie keine kriegerischen Offensivhandlungen gegen das russische Heer beabsichtige, daß sie vielmehr in friedliche Beziehungen zu der russischen Regierung treten wolle.
Gleichzeitig fördert sie die widerliche Hetze gegen den „Bolschewismus“, und derselbe Reichswehrminister Noske unterschreibt neben dem sozialistischen preußischen Minister Hirsch Aufrufe zur Bildung von Freiwilligenverbänden gegen die drohende Flut des russischen „Bolschewismus“.
Herr Erzberger erkennt den Wert an, den die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Rußland für das deutsche Volk hat. Die Voraussetzung dafür sei, daß die russische Regierung eine Garantie dafür liefert, daß sie nicht Truppen auf deutsches Gebiet senden werde. Die Regierung tut aber keinen Schritt zur Beschaffung dieser „Garantie“, und der Zustand der Feindseligkeit bleibt bestehen.
Inzwischen bemühen sich die Agenten des englischen und amerikanischen Kapitals, wirtschaftliche Fäden mit Rußland anzuknüpfen.
Die gleiche verderbliche Politik hat die Regierung zu dem zweiten Nachbar im Osten, zu Polen, getrieben. Der Herrenstandpunkt, der von Nachgiebigkeit nichts wissen will, verhindert jede Verständigung.
In Massen könnten wir Lebensmittel, namentlich Kartoffeln, aus der Provinz Posen beziehen, wenn wir ein friedliches Abkommen mit den Polen abschließen würde. Das Prestige läßt aber ganz wie unter dem alten Regime eine verständige Auslandspolitik nicht zu, mag auch das vielgeprüfte deutsche Volk noch eine Vermehrung seiner Leiden erfahren.
Der Entente gegenüber erschöpft sich die Politik in Protesten und Drohungen, die im günstigsten Fall ohne Eindruck bleiben, leicht aber eine gereizte Stimmung erzeugen und keinesfalls das große Mißtrauen und den tiefen Argwohn mildern.
Die Herausgabe der diplomatischen Urkunden über die kritische Zeit vor dem Kriegsausbruch, die die November-Regierung beschlossen hat, wird jetzt absichtlich verzögert. Dadurch wird die Ueberzeugung von dem Geist der Uebereinstimmung zwischen dem alten Regime und der Regierung der Republik befestigt. Die Einsetzung eines Staatsgerichtshofs ist eine Farce, werden doch die Richter zum großen Teil denjenigen Kreisen entnommen, die Ludendorff jahrelang gehuldigt haben und im Grunde auch jetzt seine Anschauungen teilen. Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus.
Viel wichtiger als ein Scheingerichtshof ist die Vertiefung in den Seelenzustand der Völker, deren Angehörige durch eine erbarmungslose Kriegsführung gequält, deren Landstriche verwüstet worden sind. Das aufrichtige Bemühen, das Belgien und Frankreich zugefügte Unrecht wieder gutzumachen, ist eine wesentliche Voraussetzung für die Hervorbringung friedlicher Gesinnung.
Damit wird nicht etwa die sogenannte Kontinentalpolitik empfohlen, die das Produkt einen müßigen oder gar gefährlichen Gedankenspiels ist. Die propagierte Zusammenfassung der Staaten des Kontinents enthält eine Spitze gegen das Angelsachsentum, namentlich gegen England. Sie müßte, wenn sie durchführbar wäre, einen Gegensatz zwischen den Kontinentalmächten und England erzeugen, der die Gefahr kriegerischer Verwicklungen in sich trägt. Dieses Projekt entbehrt freilich jeder realpolitischen Grundlage, in ihm steckt nicht der Kern einer schöpferischen Idee. Es handelt sich bei ihm um eine phantastische Liebhaberei. Das Proletariat hat diese Politik unter allen Umständen abzulehnen, sein Ziel ist die Versöhnung aller Völker.
Das allen sichere Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist die Stärkung der Internationale und ihre Durchdringung mit revolutionärem Geist.
Der heiligen Allianz des Kapitals die kraftvolle Verbrüderung des internationalen Sozialismus entgegenzustellen: das ist die Aufgabe der auswärtigen Politik des Proletariats. Solange die Weltrevolution, die uns umbrandet, noch nicht zur Expropriation der Expropriateure in den großen Staaten geführt hat, solange noch kapitalistische Regierungen bestimmend das Geschick der Völker beeinflussen, werden Konflikte zwischen Staaten unvermeidlich sein. Das Proletariat muß wachsam sein, um alle die Völker verhetzenden Praktiken zu durchkreuzen.
Kommt es in den großen Staaten selbst zur unbestrittenen Herrschaft, so ist kein Raum mehr für nationalistische Bestrebungen. Dann haben die Grenzstreitigkeiten jeden Sinn verloren. Was auch der Friedenskongreß über territoriale Abgrenzungen beschließen mag: das siegreiche internationale Proletariat wird mit spielender Leichtigkeit über diese national begrenzten Konstruktionen hinweggehen.
Quelle:
Die Freiheit vom 20. April 1919, 2:190 (1919), Morgen-Ausgabe, S. 1.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hugo_Haase#/media/File:Haase_1905.jpg