Karl Kautsky fordert rasche Sozialisierungen
Auf dem zweiten reichsweiten Rätekongress tritt der sozialdemokratische Parteitheoretiker Karl Kautsky für rasche Sozialisierungsmaßnahmen ein. Zu diesem Zweck müssten sich freilich erst die MSPD und USPD in einer erneuten Koalition zusammenfinden. Dies war angesichts der jüngsten bewaffneten Kämpfe zwischen beiden Gruppierungen jedoch praktisch unmöglich.
Volltext:
Die ökonomische Befreiung des Proletariats ist nicht möglich ohne die Sozialisierung des Wirtschaftslebens, das heißt ohne Ersetzung der kapitalistischen, vom Profitstreben angetriebenen Produktion für den Markt durch eine Form der Produktion, die von der Gesellschaft für die Gesellschaft betrieben wird. Das Proletariat kann sich aber nur befreien durch seine eigene Kraft. Die machtvollste Triebkraft für die Durchsetzung und das Funktionieren der sozialistischen Produktion bildet das organisierte, klassenbewußte Proletariat, als dessen vornehmste und kraftvollste Organisation in der heutigen historischen Situation Deutschlands die Arbeiterräte zu betrachten sind. Nur ihre Macht verbürgt die rascheste Sozialisierung der bisherigen kapitalistischen Wirtschaft Dauernde und zweckmäßige Resultate verspricht die Sozialisierung jedoch nur dann, wenn in jedem sozialisierten Betriebszweig nicht bloß seine Arbeiter, sondern auch die Vertreter der Konsumenten und der technischen und ökonomischen Wissenschaften ausreichend zur Geltung kommen. Bei vollkommener Sozialisierung winken den Konsumenten niedrige Preise, den Arbeitern erhöhte Löhne, kurze Arbeitszeiten, Sicherheit der Existenz und ihre Verwandlung aus bloßen Werkzeugen der Bereicherung anderer in freie und gleichberechtigte Genossen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Angesichts des ökonomischen Zusammenbruchs, den der Krieg nach sich gezogen hat, lassen sich jedoch erhöhte Löhne und niedrige Preise unter keiner Produktionsweise sofort allgemein realisieren. Um so wichtiger wird es, durch die Sozialisierung wenigstens die Verkürzung der Arbeitszeiten, die Sicherheit der Existenz und die freie Teilnahme der Arbeiter an der Produktion durchsetzen. Die Sozialisierung bedeutet nicht blo Enteignung der Kapitalisten und großen Grundbesitzer, sondern auch eine Neuorganisation des Wirtschaftslebens. Diese läßt sich nicht unterschiedslos für alle Arbeitszweige und nicht ohne alle Vorbereitungen durchführen. Sie kann nur schrittweise vorangehen und braucht Jahre zu ihrer völligen Ausgestaltung. Aber um so dringender notwendig ist es, daß sie von einer Regierung in die Hand genommen wird, die entschlossen ist, die Sozialisierung auf energischste zu fördern, und die sich dabei durch die Widerstände der alten Mächte, der Kapitalisten, der Agrarier, der Bürokraten, in keiner Weise beirren läßt. Die heutige Regierung zeigt diese Entschlossenheit nicht, sie hat bereits zu viel kostbare Zeit verstreichen lassen, ohne mehr als leere Versprechungen zutage zu fördern. Nicht ein bürgerlich-proletarisches Koalitionsministrium, sondern nur eine rein sozialistische Regierung, gestützt auf die Geschlossenheit des deutschen Proletariats, vermöchte dem Sozialisierungsprozeß jenen Schwung zu verleihen, der den Arbeitern Interesse an der Arbeit einflößt, den Streiks und Unruhen ein Ende macht und die Atmosphäre der Arbeitsfreudigkeit schafft, in der allein das deutsche Volk von der galoppierenden Schwindsucht genesen kann, in die es der fluchwürdige Krieg gestürzt hat.
Quelle:
II. Kongreß der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte, Sten. Ber. Berlin 1919, S. 268f.
Nach: Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 80f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Kautsky#/media/File:Karl_Kautsky_01.jpg