Kesslers Europapläne
Kessler berichtet von einer Diskussion zum Kommunismus in seinem Bekanntenkreis. Auch Wiederaufbau-Pläne für Polen und Frankreich werden besprochen und teilweise ob der schlechten Beziehungen wieder verworfen. Außerdem steht man dem Völkerbund immernoch kritisch gegenüber und schmiedet Pläne diesen zu unterlaufen.
Volltext:
3 April. 1919. Donnerstag.
Marsigli bei mir gefrühstückt mit Fister u Hilferding. Fister bekannte sich offen als Mitglied der Kommunistischen Partei, die sich erst im Dezember mit dem Spartakus Bund vereinigt hat. Die Kommunisten waren die Intellektuellen, die Spartakisten die Masse. Er trug seine Ideen über Arbeiter Erziehung vor, die Marsigli aufmerksam anhörte. Er wird jedenfalls darüber ausführlich berichten, was gut ist, weil dadurch die Ernsthaftigkeit unseres Sozialismus bestärkt wird. Hilferding war mit Fisters Ideeen einverstanden, aber nur „wenn die Spitzen nicht abgeschnitten würden." - Marsigli sprach über die gemeinsame Finanzierung Polens durch Deutschland u. Frankreich. Praktisch u theoretisch sei sie das Vernünftigste; namentlich da die Wiederherstellung Nordfrankreichs damit verbunden werden könnte, indem zum Teil dieselben Firmen Fabriken z B in Tourcoing u. Lodz hätten. Allerdings sei der Hass gegen Deutschland wegen der mutwilligen Zerstörung der Industrie in Nordfrankreich so gross, dass ein Zusammenarbeiten sehr schwer sein werde, ja die Möglichkeit vorläufig fraglich sei. – Romberg im Grossen Casino am Pariser Platz gesehen. Er hat Rantzaus Vorschlag provisorisch angenommen u. kommt Dienstag wieder. – Simons im Amte wegen des Völkerbundes; nachdem ich einen Augenblick Rantzau gesprochen hatte. Ich formulierte Simons, was wir zusammen verabreden müssten: nämlich: wer meine Idee herausbringen solle, in welcher Form, wie die Agitation zu gestalten sei, ob und wann die Reichsregierung sie als die ihrige offiziell aufnehmen solle? Er war wie immer etwas schüchtern-trocken, aber nicht ablehnend. Die Methode, den Völkerbund, wie er sich ausdrückte, „subversiv zu behandeln“ schien ihm einzuleuchten. Er meinte allerdings, wir hätten bereits unseren kleinen Finger drinnen durch die Zulassung der Neutralen. Er glaubt offenbar, dass wir ihn langsam von innen ummodeln könnten ohne grosse Idee: die juristisch-homeopathische Methode, gegenüber der chirurgischen. - Abends Klub bei Cassirer. Wieder viele ausländische Journalisten: Ward Price, Young, Miss Harrison, der Mannl vom „Corriere della Sera“ u. S. w. Mit Price über Russland. Die Selbstverproviantierung der Fabriken u. Regierungsämter auf dem Lande, die Markowski schildert wurde mir beleuchtet durch eine Bemerkung von Price, dass in vielen russischen Gegenden die Fabrikarbeiter noch gleichzeitig Bauern sind, die zweimal im Jahre zur Aussaat u. zur Ernte aufs Land gehen u. arbeiten. Dadurch wird es vollkommen natürlich, dass sie sich ihre Lebensmittel von zuhause selbst holen. Price sagt, wenn diese Selbstverproviantierung nicht gewesen wäre, so wären die Städte verhungert u. die Sowjetregierung zusammengebrochen. Er korrespondiert nicht mehr für den „Manchester Guardian" sondern für die neue Arbeiterzeitung, den ,,Daily Herald“, der, wie er mir sagte, eine Gründung von Lansbury ist u katholisierende Tendenzen hat. Der ,,Corriere“ Mann, der übrigens einen recht gebildeten u. eleganten Eindruck macht, studiert wie alle andren frem den Correspondenten die soziale Umwälzung. Sie scheint sie Alle zu verblüffen. Der Club entwickelt sich allmählich zum ersten internationalen Treff u. Mittelpunkt nach dem Kriege, von wo Eindrücke und Stimmungen in alle Welt gehen.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 219 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerbund#/media/File:Flag_of_the_League_of_Nations_(1939).svg