Kohlestreiks im Ruhrgebiet - Reichskommissar Severing interveniert
Die deutschen Industriegebiete sind weiterhin von Streiks betroffen. Die Arbeiter fordern neben finanziellen Zugeständnissen auch politische Reformen. Die sozialistisch geführte Reichsregierung ernennt zur Bewältigung der Lage spezielle Reichskommissare. Carl Severing weist sich bereits in dieser Rolle als diplomatischer Verhandler aus und wird später preußischer Innenminister.
Volltext:
Kameraden! Von der Reichsregierung bin ich zum Kommissar im Bereiche des Generalkommandos des 7. Armeekorps ernannt worden. Ich bin zur Anordnung aller militärischen und politischen Maßnahmen ermächtigt, die geeignet erscheinen, die Ruhe und Sicherheit im rheinisch-westfälischen Industriegebiet aufrecht zu erhalten. Diese Maßnahme erblicke ich nicht in erster Linie in gewaltsamer Unterdrückung, sondern in dem Versuch auf Verständigung mit den streikenden Arbeitern und in der Abstellung vorhandener Härten und Mißstände.
In der Erfüllung der mir übertragenen Aufgabe möchte ich als Arbeitervertreter zu den Arbeitern reden und als Arbeiter für die Arbeiter handeln. Von diesem Grundsatz ausgehend, wird es meine erste Sorge sein, eine Besserung in der Lebensmittelbelieferung der Bergarbeiter herbeizuführen. Der größte Feind der Gütererzeugung und der öffentlichen Ruhe ist der Hunger! Ihn zu bekämpfen, ist die vornehmste Aufgabe aller. Ich werde mir keinen Augenblick einbilden, sie lösen zu können, wenn ich nicht von Euch darin wirksam unterstützt werde. Ohne Kohle und die durch die Kohle geschaffenen Industriewerte werden wir auf die Dauer keine Lebensmittel erhalten. Einem allmählichen Abbau der Arbeitszeit im Bergbau werden die zuständigen Stellen nähertreten müssen. Heute aber gilt es, zu verhindern, daß durch einen Zusammenbruch des rheinisch-westfälischen Bergbaues dem deutschen Wirtschaftsleben das Rückgrat zerschmettert wird. Ich appelliere dabei an Eure Einsicht, an Eure Liebe zur deutschen Arbeiterschaft, zum deutschen Volke. Gewalt soll nur da in Anwendung gebracht werden, wo unverantwortliche Elemente dazu herausfordern. Ich habe deshalb angeordnet, daß die im Bochumer Kreise lagernden Regierungstruppen, die ohne jeden zwingenden Anlaß herangezogen worden sind, zurückgezogen werden.
Dort, wo der Belagerungszustand verhängt ist, sollen folgende Erleichterungen eintreten:
1. Die Polizeistunde bleibt wie bisher bestehen.
2. Der Aufenthalt auf den Straßen ist auch nach 10 Uhr abends gestattet.
3. Die nach den Ziffern 5 und 7 der Bekanntmachung des Kommandierenden Generals erforderlichen Genehmigungen des örtlichen militärischen Befehlshabers werden auf die zuständigen Zivilbehörden übertragen, die im Einverständnis mit mir zu arbeiten haben.
4. Die Bestimmung unter Ziffer 6 der genannten Bekanntmachung, die Schließung politischer Vereine betreffend, wird aufgehoben.
In der Erledigung meiner Mission möchte ich nicht nur Beauftragter der Regierung sein, sondern auch der Vertrauensmann der Arbeiter werden. Ich erkläre mich darum gern bereit, überall einzugreifen, wo zur Abstellung von Mißständen und zur Aufklärung von Mißverständnissen eine Vermittlungsstelle gewünscht wird. So möchte ich den Beweis erbringen, daß es weder der Regierung noch mir darum zu tun ist, eine wirtschaftliche Bewegung mit Waffengewalt niederzuhalten, daß es jetzt vielmehr darauf ankommt, alle einsichtigen und ihrer Verantwortung sich bewußten Arbeiter auf einen gemeinsamen Boden zu führen, auf den Boden der Vernunft und der wirtschaftlichen Selbsterhaltung.
Dortmund, den 8. April 1919.
gez. Severing, Dortmund, Stadthaus.
Quelle:
Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 78f.