Victor Klemperer: "Dicht, das gehört sich!"
Klemperer schreibt über seine Erlebnisse mit zwei Professoren-Frauen, die ihm sehr offen vorkommen. Außerdem schreibt er von den Vorkommnissen am Abend und in der Nacht. Es sind unsichere Zeiten.
Volltext:
30/4 19 Mittwoch Morgen
Die Bête humaine ausführlich zu Ende notiert, wenige Seiten aus der schleppenderen Terre vorgelesen. Trostlose bibliographische Vorbereitungen zum V. Hugo-Colleg. Das hat wenig Zweck; ich werde Mabilleau u. Biré durchgehen u. mir ungefähr skizzieren, was von Stunde zu Stunde zu arbeiten ist. – Vormittags zwei Professorenbesuche, beidemal nur die Damen zu Haus. Frau Wilhelm, la femme à Méphisto-Germanistico. Frau Heisenberg, Geheimrätin, ihr mir unbekannter August ist Ordinarius für Griechisch. Beide Damen sehr liebenswürdig, sehr interessiert, beidemal mußte sich Eva aufs Sopha dicht neben die Hausfrau setzen, dicht, das gehört sich. Dabei Abstufungen: die Frau Extraordinarius ohne Lehrauftrag ist intimer, herzlicher, schicksalsverwandter; die Frau Geheimrätin burschikoser, leutseliger; sie öffnete übrigens selber, stellte sich vor u. hatte ein frisches unverkünsteltes selbstbewußtes Wesen. Man spricht immer das Gleiche: über den gegenwärtigen Zustand, über meine Schicksale - ich erzähle von Neapel u. Gent, von Landauer u. Strasser.
Abends starker Alarm: Glocken, eine Fabrikpfeife, gegen 12 Kanonenschuß. Sonst Stille. Gestern war das erste Mal seit dem 13/IV die Staatsztg. erschienen, unter Betriebsrat-Censur – heute fährt wieder keine Trambahn. Man ist ganz im Ungewissen.
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 106.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-26707-0001,_Victor_Klemperer.jpg