Wird Frankreich das Saarland annektieren? - Nur Fake News!
Fake News sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Auch 1919 gab es sie vermeintlich schon - wenn auch in anderem Umfang. Die Vossische Zeitung diskutiert die falsche Meldung einer vermeintlichen Annexion des Saargebiets durch Frankreich. Offenbar soll diese Pressekampagne Deutschland die Möglichkeit nehmen sich mit Frankreich auszusöhnen. Doch welche Seite hat nun Recht?
Volltext:
Das Saargebiet.
Ein Teil der französischen Presse tut so, als ob man in Frankreich die Annexion des Saargebietes erwarte. In den deutschen Zeitungen werden diese Stimmen eifrig wiedergegeben, und sie bilden dann den Ausgangspunkt geharnischten Widerspruchs. Daß kein Deutscher die Abtretung des Saargebietes wie irgendeines unzweifelhaft deutschen Landesteils zugestehen könnte, ist selbstverständlich. Aber die Frage ist noch nicht beantwortet, wie eine solche Abtretung vermieden, wie ihre Unmöglichkeit auch nur wirksam bewiesen werden kann. Vielleicht würde diese einmütige entrüstete Ablehnung am Platze sein als Antwort auf eine ebenso einmütige und vor allem ernst gemeinte Forderung des ganzen französischen Volkes. Aber darum handelt es sich gar nicht. Die wirklich politische Presse Frankreichs und an ihrer Spitze der „Temps“ hat schon wiederholt erklärt, daß nicht die Annexion des Saarbeckens gefordert wird, sondern eine wirtschaftliche Erschließung für Frankreich. Solange der Begriff des Selbstbestimmungsrechts zu den Grundlagen des kommenden Friedens gehört, kann auch in Frankreich niemand ernstlich daran denken, national unbestritten einheitlichen Landesteile von Deutschland losreißen zu wollen. Daß ein solcher Gedanke überhaupt ernsthaft in Frage kommen könnte, das lernt man in Frankreich erst aus den deutschen Protesten.
Der scheinbare Gegensatz zwischen der Mehrforderung mancher Zeitungen, die auch gelegentlich von der öffiziösen Huvas-Agentur unterstützt werden, und der Minderforderungen der übrigen Presse würde aber in seinen Ausmaßen wahrscheinlich ganz anders aussehen, wenn die deutsche Öffentlichkeit bei der Beurteilung dieser Dinge nicht so stark unter dem Einfluss der englischen und amerikanischen Presse stünde. Die Behandlung der französischen Forderungen in diesen Zeitungen ist nichts weniger als bundesgenössisch. Sie sind es vielmehr, die andauernd jeden Versuchsballon der radikalsten Heißsporne in Frankreich als Ausdruck eines entschlossenen einmütigen Volkswillens und vor allem auch des Regierungswillens hinstellen. Der Zweck dieser Propaganda ist klar: England und Amerika bemühen sich, dem deutschen Volk als seine Retter gegenüber der französischen Annexionswut zu erscheinen. Diese Pose entbehrt jeder Wahrhaftigkeit. England hat im Einvernehmen mit Amerika bisher so vieles gegen die Lebensfähigkeit unseres Volkes unternommen, daß sein plötzlich erwachtes Interesse an ihr von vornherein unglaubwürdig ist. Es ist noch unglaubwürdiger, dadurch, daß die Haltung der englischen und amerikanischen Vertreter bei den internen Verhandlungen in Paris sich von der wohlwollenden Geste, die gelegentlich nach außen zur Schau getragen wird, ganz erheblich unterscheiden soll.
Diese für Deutschland bestimmte englisch-amerikanische Pressekampagne gegen Frankreich dient aber nicht nur dazu, weite deutsche Kreise in ihrer letzten Endes gegen Frankreich gerichteten anglophilen Politik zu bestärken, sondern vor allem dazu, eine ernste realpolitische Diskussion mit Frankreich über alle schwebenden Fragen, in diesem Falle über das Saargebiet, zu verhindern. Es ist klar, daß sich in Deutschland so gut wie niemand dagegen wehren würde, eine Verständigung über Kohlenlieferungen aus dem deutschen Saargebiet nach Frankreich grundsätzlich anzustreben. Aber an einer solchen unmittelbaren Verständigung hätte England durchaus kein Interesse. Sie könnte vielleicht den Anfang zu der großen wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen überhaupt bilden, die zwischen Deutschland und Frankreich notwendig ist, und die vermutlich zu einer entscheidenden Annäherung führen würde. Das Ergebnis würde wahrscheinlich sein, daß sowohl die deutsche wie die französische industrielle Produktion auf dem Wege gegenseitiger Ergänzung gefördert würde, und daß rechts und links vom Rhein ein politisch zwar geteiltes, wirtschaftlich aber einheitliches Industriegebiet entstünde, das manches zur Förderung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit Frankreichs und Deutschlands gerade gegenüber England beitragen würde. Das ist der Weg, um Deutschland, das bis jetzt auf dem besten Wege ist, zum Helfer der antikontinentalen Politik Englands zu werden, an die Seite Frankreichs in seinem Kampf um die Unabhängigkeit des europäischen Festlandes zu bringen.
[…]
Quelle:
Vossische Zeitung vom 2. April 1919, Nr. 170 Abendausgabe
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190402-1-0-0-0.xml
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Saargebiet#/media/File:Lage_Deutsches_Reich_-_Saargebiet.png