Das Rätewesen in seiner fortschrittlichen und möglichen Gestalt
Als Mitglied der Nationalversammlung war Nikolaus Osterroth unmittelbar in die Diskussionen um ein Betriebsrätegesetz involviert. In diesem Artikel versucht er die Abgrenzung zwischen wirtschaftlichen Betriebsräten und dem politischen Rätesystem darzulegen und die Vorteile der Betriebsräte für die weitere Verwirklichung des Sozialismus herauszustellen.
Volltext:
Eine der umstrittensten Fragen ist seit langen Monaten die der Betriebsräte, die endlich die Nationalversammlung beschäftigt, nachdem die Einrichtung der Betriebsräte in der Reichsverfassung rechtlich gesichert wurde. Neben der Sozialisierung ist die Rätefrage ein Kernstück in der großen wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung, die wir durchleben. Soweit angestrebt wurde, neben dem Parlament eine gleichberechtigte gesetzgeberische und exekutive Räteorganisation aufzubauen oder alle Macht den Räten zu übertragen nach russischem Muster, ist die Frage in der Verfassung verneint und zwar mit Zustimmung der Sozialdemokratie, die sich vom Boden der Demokratie nicht entfernen kann und darf. Die Diktatur einer Minderheit ist für die Sozialdemokratie nicht diskutabel. Denn erstens kann sie keine Dauer haben, führt also zum Rückschlag und dient damit der Reaktion, und zweitens: wenn wir einer Diktatur von links das Recht einräumen, den Rechtsboden der Demokratie zu zertrümmern, so schaffen wir einer gewalttätigen Minderheit von rechts ja das rechtliche Argument, das gleiche zu tun, wenn ihr die nötige Anzahl Bajonette zur Verfügung steht. Nicht die Gewalt darf künftig der Rechtsanspruch der Herrschaft sein, sondern einzig das Recht, das aus der freien Selbstbestimmung politisch gleicher und wirtschaftlich freier Bürger fließt. Jeder andere Weg führt
nicht zu einer höheren Organisation
der Gesellschaft, sondern zum Abgrund der Anarchie.
Lehnen wir aber eine politische und wirtschaftliche Rätediktatur ab, so schütten wir das Kind noch nicht mit dem Bade aus. Das Brauchbare aus dem Rätegedanken und eins der wichtigsten Mittel, die Produktion einer größeren Ergiebigkeit entgegen zu führen, die wir als Vorbedingung zur Sozialisierung brauchen, sind die Betriebsräte, die zugleich ein Instrument der wirtschaftlichen Mitbestimmung des Arbeiters im Produktionsprozeß sein sollen und sein müssen. Die große Aufgabe der Sozialdemokratie ist nun, den an sich brauchbaren Entwurf der Regierung in den Beratungen der Nationalversammlung so auszubauen, daß er seinem eigentlichen Zweck entspricht und die berechtigten Erwartungen der Arbeiter erfüllt.
Von einem Trugbild wird man sich dabei freihalten müssen: die Betriebsräte ganz gleich wie weit ihre Vollmachten gehen, können die Sozialisierung nicht verwirklichen. Denn der Sozialismus ist die Wirtschaft durch die Gesamtheit für die Gesamtheit. Diese kann aber unmöglich von den Arbeitern eines oder einer beliebigen Anzahl von Betrieben vorgenommen werden. Das wäre das Gegenteil von Sozialismus und würde nur an die Stelle des einzelnen Besitzers der Produktionsmittel eine mehr oder minder große Vielheit von Besitzern setzen, die einer Steigerung der Produktion eher hinderlich als fördernd wäre. Die Steigerung der Produktino ist aber unbedingte Vorbedingung jeder Sozialisierung, die ihren einzigen Zweck erfüllen soll: allen Menschen ein größeres Maß von Kulturgütern zu gewähren. Die heutige Produktion reicht bei weitem nicht einmal aus, den 65 Millionen Deutschen auch nur das nackte Leben zu erhalten. Unsere Agrarerzeugung reicht für höchstens 40 Millionen Menschen; für 25 Millionen Menschen müssen wir Lebensmittel einführen. m diese unbedingt nötige Einfuhr bezahlen zu können, müssen wir unsere eigenen und alle vom Weltmarkt erhältlichen Rohstoffe verarbeiten und sie
an den Weltmarkt abgeben.
Wir sind und bleiben bei unserer Ueberbevölkerung also die Lohnarbeiter des unsere Ernährung sichernden Weltmarktes. Umgeben und abhängig von kapitalistischen Ländern können wir das Maß, die Methoden und den Umfang des Sozialismus nicht allein bestimmen: weder als Volksganzes noch als der Teil des Volkes, der die Sozialisierung anstrebt. Der Glaube, die Betriebsräte könnten irgendetwas sozialisieren, ist also ein gefährlicher Irrwahn, dessen Verwirklichung einen noch schlimmeren Ausgang nehmen würde, als das ungarische Räteexperiment.
Damit ist auch der Aufgabenkreis der Betriebsräte auf das mögliche eingeschränkt. Er zerfällt in zwei Gruppen: einerseits die Wahrnehmung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer (Arbeiter und Angestellte) des Betriebs, andererseits die Einflußnahme auf Betriebsleitung und Betriebsleistung. Beide können nicht wahrgenommen werden ohne oder gar im Gegensatz zu den Berufsvereinen (Gewerkschaften); letztere müssen vielmehr die Rückendeckung und das überordnende und inspirierende Verbindungsorgan der Betriebsräte innerhalb eines Industriezweiges und der gesamten Volkswirtschaft bleiben. Der Betriebsrat kann auch nicht Partei des Arbeitsvertrags sein. Das würde zu unmöglichen Abstufungen in den Festsetzungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen und damit zur Anarchisierung der Wirtschaft führen. Der individuelle Arbeitsvertrag ist abgetan; an seine Stelle ist der korporative Arbeitsvertrag getreten, dessen Träger die Arbeitgeberverbände einerseits und der gewerkschaftlichen Berufsverbände andererseits sind und bleiben müssen. Unbeschadet dessen ist der Aufgabenkreis der Betriebsräte noch so gewaltig, daß er nur durch die sorgfältigste Auslese der qualifiziertesten Arbeiter bei der Wahl zu den Betriebsräten zu bewältigen ist.
Der Entwurf macht einen energischen Anlauf, um dem wirtschaftlichen Faustrecht ein Ende zu machen, unter dem der Verkäufer der Arbeitskraft bisher der Leidtragende war. Dieses wirtschaftliche Faustrecht war bisher das eigentliche Merkmal der kapitalistischen Herrschaft über den wirtschaftlich Schwächeren. Das Scharfmacherwort:
"Ich bin der Herr im Hause"
wird samt seinem für den Arbeiter vernichtenden Inhalt durch das Gesetz zertrümmert. Der Arbeiter wird fortab nicht mehr der Willkür untertan sein; er wird frei sein. Er wird Herr über sein Geschick. Er steht endlich dem Arbeitgeber als Gleichberechtigter gegenüber.
Insbesondere muß den Gewerkschaften das Recht gesichert werden, in tariflichen Vereinbarungen über die für allgemeine Verhältnisse geltenden Gesetzesvorschriften hinaus zu gehen, was für einzelne Industriegruppen durchaus möglich und nötig ist. Man kann z.B. nicht den Bergbau über den gleichen Kamm scheren wie etwa die Landwirtschaft oder den gewerblichen Mittelbetrieb. Wir halten auch die durchgeführte Trennung der Arbeiter- und Angestelltengruppen im Betriebsrat für einen Fehler, der beseitigt werden muß.
Alles in allem aber ist der Entwurf eine Grundlage, auf der sich weiterbauen läßt. Die agitatorische Behauptung, daß das Gesetz nur eine andere Aufmachung der knappen Rechte der Arbeiterausschüsse und der Sicherheitsmänner im Bergbau bringe, ist eine krasse Unwahrheit. Allerdings gehen deren Funktionen auf die Betriebsräte über, aber doch in einer Ausweitung, die den Forderungen der Arbeiter gerecht zu werden sucht. Und darüber hinaus schafft es Möglichkeiten der Betätigung und engt die Herrschaft des Unternehmers so weit ein, daß ein Vergleich mit den Arbeiterausschüssen geradezu lächerlich wird. Allerdings gehören zu der praktischen Anwendung der neu erworbenen und stark erweiterten alten Rechte Männer, die mehr können als Phrasen dreschen. Arbeiter, die in gleichem Maße Wollen und Können verkörpern, werden in dem Gesetz die nötige Rüstung finden, derer sie bedürfen zur Wahrnehmung und Verteidigung aller sozialen und wirtschaftlichen Interessen ihrer Klasse.
Quelle:
Volkszeitung für Sachsen-Weimar-Eisenach Nr. 200 vom 28.8.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00212318/WVZ_1919_07-09_0691.TIF?logicalDiv=jportal_jpvolume_00145914
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_Osterroth#/media/Datei:OsterrothNikolaus.jpg