Der Imperialismus der Anderen
Der anglo-iranische Vertrag vom 9. August macht in der deutschen Presselandschaft einige Furore. Kritisiert wird das Bestreben von "John Bull" - eine Personifizierung des britischen Imperialismus - sich Persien (den heutigen Iran) wenn schon nicht direkt einzuverleiben, so doch wenigstens als Protektorat untertan zu machen.
Die Jenaische Zeitung kann mit den Persern mitfühlen und verweist auf die Arbeit des deutschstämmigen US-Amerikaners Morgan Shuster: Ein früher Kritiker des westlichen Imperialismus in Persien und kurzzeitiger persischer Finanzminister im Rahmen der Konstitutionellen Revolution von 1906. Dies war der erste Versuch in einem mehrheitlich muslimischen Land den Parlamentarismus einzuführen, was von Russen wie Briten gleichermaßen bekämpft wurde.
Volltext:
John Bull in Persien.
Das Volksprotektorat.
Die französischen Zeitungen tun sehr aufgeregt über die neueste Gestaltung der Dinge in Persien. Sie bedauern mit durchsichtigem Aerger, daß das Land der im Preise so ungeheuerlich gestiegenen Teppiche nun ganz unter englische Oberhoheit komme, obwohl ihm doch Unabhängigkeit und Unversehrtheit zugestanden worden sei. Wo sei denn die Friedenskonferenz und ihre Zuständigkeit für solche Fragen des Selbstbestimmungsrechtes geblieben? Und wo blieben denn die Entschädigungen ("Kompensationen") Frankreichs in anderen Teilen des Orients? So die französische Presse. Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie. Wer hat dann den Persern die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit zugesichert? Antwort: Deutschland im Friedensvertrag, ja schon im Waffenstillstand von Brest-Litowsk. Rußland ging, unter vollständigem Verzicht auf das russisch-englische Abkommen über Persien vom Jahre 1907 darauf ein. Rußland ist zusammengebrochen, Deutschland ist zusammengebrochen. Der Vertrag von Brest-Litowsk gilt nicht mehr. Aber was hat denn Frankreich für Persien getan? Nichts. Es hat jahrzehntelang ruhig zugesehen, wie sich England und Rußland in Persien zu Tische setzten. Es hat sich sein Ausgrabungsmonopol (für lumpige 50000 Francs) gesichert und dafür gesorgt, daß das Unterrichtswesen Persiens durch Anstellung von Aerzten, Ingenieuren und Sprachlehrern möglichst in französische Hände kam, wo es auch jetzt, unter dem neuen Volksprotektorat Englands verbleiben soll. Als französische Kompensation!
Die Freiheit Persiens ist den Franzosen höchst gleichgültig. Stillschweigend haben sie sich die englische Pionierarbeit in Persien während des Weltkrieges angesehen. Wie diese Pionierarbeit ausgesehen hat, darüber bestehen Dokumente. Im November 1916 wurde der britische Konsul in Schiras, Major O'Connor, eine Zeitland durch persische Gendarmen in Haft gehalten. Seine Akten fielen dann in deutsche Hände. Sie sind eine Fundgrube von Material sowohl für die rücksichtslose Bedenkenlosigkeit, mit der England Persiens Rechte mit Füßen tritt, wie auch für den Kampf, den seit dem Teilungsvertrage von 1907 nicht mehr offen, dafür aber mit um so größerer Kraft im geheimen England und Rußland in Persien gegeneinander führten.
Dieser Kampf zwischen den Verbündeten dauerte auch während des Krieges fort. Von der deutschen Regierung ist Ende Januar 1907 eines der aufgefundenen Schriftstücke, ein Brief des englischen Gesandten Townley, veröffentlicht worden. Eine Auslese aus dem Funde von Schiras findet jeder, der sich dafür interessiert, in der vom Verlag Der neue Orient, Berlin, veranstalteten Sammlung "Englische Dokumente zur Erdrosselung Persiens". Nun versteht man alles: Warum die schwedischen Offiziere, die zur Organisierung der persischen Gendarmerie ins Land kamen, nicht bezahlt wurden. Warum der ausgezeichnete amerikanische Finanzmann Morgan Schuster das Land verlassen mußte. Er schrieb schon im Jahre 1912 ein Buch über Persien: "Die Erdrosselung eines Volkes". Der britische Imperialismus, der sich in Südpersien eingenistet und im Kriege die Flankenstellung in Mesopotamien gewonnen hatte, schob sich, ohne wesentliche Widerstände zu finden, auf der von Rußland verlassenen Straße nach Norden vor. Seine Banken und Handelsunternehmungen wurden wichtige Werkzeuge in den Händen der englischen Diplomatie.
Es ist töricht und zeigt eine große Kurzsichtigkeit und Unkenntnis des Wirtschaftslebens, wenn man behauptet, daß die "friedlichen Eroberer" dem Lande wahre Kultur und wirtschaftlichen Segen gebracht haben. Die Verbesserungen in den Verkehrsmitteln, in Post und Telegraph, sind in erster Linie für die wirtschaftliche Ausbeutung bestimmt und bringen den Eroberern einen ungleich höheren Nutzen wie den Unterworfenen. Auch die übrigen Begleiterscheinungen eines geregelten Handelsverkehrs sind keineswegs derart, daß man nun behaupten kann, die wirtschaftlich durchdrungenen Gebiete erleben einen ökonomischen Aufschwung. Der Gewinn der Mehverträgnisse fließt regelmäßig in die Taschen der Eroberer und unzählige Beispiele beweisen immer wieder, daß die Völker selbst von der Mehrproduktion so gut wie gar nichts haben, sondern im Gegenteil stets tiefer in wirtschaftliche wie politische Abhängigkeit geraten. Unternimmt doch der Schah und der neue persische Außenminister Prinz Firus Mirsa jetzt die Reise nach Europa, soll heißten nach London, mit dem Gelde, das England auf die Anleihe vorgeschossen hat. Sonst könnten die beiden gar nicht reisen.
So traurig sieht es in Teheran aus. Wir sind über diese Dinge genau informiert durch das Komitee der persischen Nationalisten in Berlin, dessen Sprecher Herr Wahib Al Mulk ist. Aber er so wenig wie der persische Gesandte am Kurfürstendamm und wie die deutsche Regierung in der Wilhelmstraße und wie endlich die Organisation der "Waldbrüder", die sich in Persien gegen die Engländer verschworen hat, werden an dem weiteren Gang der Dinge etwas ändern können. Wo John Bull die Beine auf dem Tische hat, legt er sie so schnell nicht wieder herunter.
Quelle:
Jenaische Zeitung Nr. 192 vom 18.8.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00246815/JZ_Jenaische_Zeitung_169419428_1919_1131.tif
Bild 1:
https://de.wikipedia.org/wiki/John_Bull#/media/Datei:John_Bull_-_World_War_I_recruiting_poster.jpeg
Bild 2:
https://de.wikipedia.org/wiki/Morgan_Shuster#/media/Datei:MorganShuster.jpg