Der Sprache Vosslers bin ich nicht gewachsen!
Klemperer berichtet in seinem Tagebuch zunächst von dem Leiden seiner Frau Eva, und dann über das Nachholen längst überfälligen Schlafs seinerseits. Es folgt ein Eingeständnis gegenüber seinem Lehrer, dem Romanisten Karl Vossler. Klemperer fühlt sich ihm wissenschaftlich unterlegen.
Volltext:
Montag Abend 11 Uhr 4/8 19.
Eva schrieb heute sehr deprimiert wegen eines Rheuma-Rückfalls. – Heute nach Tisch tat ich endlich, was ich fast 4 Wochen entbehrte u. immer hätte tun sollen: ich warf mich einfach auf das (gemachte) Bett u. schlief dort; mir hatte all die Zeit über Sopha u. Mittagsruhe gefehlt. –
[...] Die Leipziger N. N. brachten gestern ein langes ausschließlich politisch nationalistisches u somit entstelltes Referat meines Universitätsvortrages. (»Aus München wird uns berichtet«) – Schultz-Gora schreibt mir, ich könnte schließlich den Curtius in seinem Archiv anzeigen, es wäre ihm aber »schmerzlich«, wenn »diese Schrift« bei ihm gelobt würde. Ich erwiderte, es sei durchaus nicht meine Absicht zu loben, ich möchte der Urteilsverwirrung entgegentreten, die das Lit. Echo anrichte. - Ich bin mir gestern mit Schmerzen bewußt geworden, daß ich der schwer fachmäßigen Philosophie in Voßlers Sprache als Schöpfung u. Entwicklung nicht gewachsen bin. Übrigens mischt sich in diese Fachsprache immer wieder bizarre u. derbe originelle Bildlichkeit. – [...]
Gestern vor Tisch machte ich noch eine Visite bei Streitberg, dem schwerhörigen u. hinkenden ergrauten Indogermanisten, der mich vor 5 Jahren das Thema meiner Habilitationsrede ziehen ließ. Freundliche Aufnahme.
Nach dem Essen bei M.'s zum Kaffee. Mit ihnen um 4 Uhr in das Kino Hofgarten an der Liebigstr. Man gab dort die drei Musketiere von Dumas. [...] - Der Roman ist schlecht u. armselig, der Film noch schlechter u. armseliger. Aber gute Aufnahmen. [...]
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 164 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Vossler#/media/Datei:Karl_Vossler_1926.jpg