Die Republik ist da, und wo sind die Republikaner?
AM 11. August wurde die Verfassung unterzeichnet. Am 14. trat sie in Kraft. Der ehemalige Finanzminister Eugen Schiffer (DDP) nimmt dies als Anlass, um über die Demokratiefähigkeit der Deutschen zu reflektieren. Es geht ihm freilich nicht um pseudobiologische Begründungen oder dergleichen, sondern um die Frage, wie die Parteien und die Wählerschaft die neuen demokratischen Freiheiten nutzen werden. Konsens- und Kompromißfähigkeit ist bei ihnen gleichermaßen wenig ausgeprägt, doch gerade die "demokratischste Demokratie der Welt" kann ohne solche Tugenden nicht überleben.
Volltext:
Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung.
Das Reichsgesetzblatt veröffentlicht die neue Reichsverfassung, die damit in Kraft getreten ist. Der Reichspräsident hat den bisherigen Präsidenten des Reichsministeriums Gustav Bauer zum Reichskanzler ernannt. Die verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung führt von jetzt ab die Bezeichnung Reichstag. Die bisherige Vertretung der Landesregierungen bei der Reichsregierung, der Staatenausschuß, hat aufgehört zu bestehen. An seine Stelle ist der Reichsrat getreten.
Der Reichspräsident hat eine Verordnung erlassen, daß alle Beamten des Reichs und der Länder, der Gemeinden, Kommunalverbände und der sonstigen öffentlichen Anstalten sowie die Angehörigen der Wehrmacht unverzüglich auf die Reichsverfassung zu vereidigen sind.
*
Die demokratischste Demokratie der Welt.
Von Reichsminister a.D. Schiffer.
Vor einiger Zeit schrieb ein geistreicher Amerikaner, die Deutschen hätten jetzt zwar eine Republik, es fehlten ihnen aber noch die dazu gehörigen Republikaner. Ein feines Wort, das ebenso kurz wie treffend den Zustand der Dinge wiedergibt, wie er wirklich ist. Für die Staatsform gilt schließlich dasselbe, wie für jede Form: auf den Inhalt, den sie umschließt, kommt es an, wenn die Frage beantwortet werden soll, ob sie lebendige Kraft, wirkende Wahrheit oder nur äußerliche Erscheinung ist. Erst wenn die Republik der großen Mehrheit der deutschen Reichsbürger derart in Fleisch und Blut übergegangen sein wird, daß sie ihnen etwas Selbstverständliches geworden ist; wenn sie ihnen nicht mehr ein neues, noch ungewohntes Gewand sein wird, das man eben erst angetan hat, sondern ein Teil ihres Selbst, das ihr ganzes Sein und Wesen, ihre Lebensanschauung und Lebensführung durchdringt; erst dann wird die Staatsumwälzung vollendet sein. Dann wird auch die Nervosität weichen, die weit mehr ein Zeichen innerer als äußerer Unsicherheit ist, und das Gefühl des geistigen Besitzstandes Platz greifen und einer ruhigeren Entwicklung den Weg bereiten. Das geht nicht von heut auf morgen; ein solcher Prozeß braucht Zeit; nur muß man sich darüber klar sein, daß er unausweislich und unumgänglich ist. Wie er geführt werden sollte, lehrt vielleicht ein Blick in die Geschichte der Einführung des Christentums in Deutschland, die auch nicht mit der Taufe der bekehrten Stämme ihren Abschluß fand.
Sollte es sich bei der Demokratie sehr viel anders verhalten? Nach der Annahme der Verfassung führte Reichsminister David in der Nationalversammlung aus: "Nirgends in der Welt ist die Demokratie konsequenter durchgeführt als in dieser Verfassung. Wir haben das demokratischste Wahlrecht, und wir haben zum ersten male die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frauen. Die deutsche Republik ist fortan die demokratischste Demokratie der Welt." Mag sein - vom Standpunkt der geschriebenen Verfassung des Verfassungsrechtes aus; aber damit allein ist es auch hier nicht getan. Hinzukommen muss die demokratische Gesinnung, die sich in der Führung der politischen Geschäfte stetig zu betätigen hat. Da die deutsche Reichsverfassung für diese Funktion die parlamentarische Methode gewählt hat, muß diese Methode in einer Weise gehandthabt werden, die der auf die Mehrheit des Parlaments gestützten Regierung in ihr einen unerschütterlich feste Grundlage für ihre Maßnahmen, ihr Verfahren und Verhalten gewährleistet. Deshalb ist dauernde engste Verbindung zwischen der Regierung und der Regierungsmehrheit und, wenn letztere aus mehreren Parteien besteht, zwischen diesen Parteien geboten. Hierbei geht es nicht ohne ein gehöriges Maß von Selbstzucht und Selbstüberwindung ab; nur zu oft müssen die Gesichtspunkte der Partei als solcher zurücktreten, ihre Gepflogenheiten aufgegeben werden; und ein derartiger Verzicht mag Parteien und Parteirichtungen besonders schwer fallen, die bisher nur in der Opposition gestanden hatten und es nicht anders wußten, als daß die Regierung ein Objekt des Mißtrauens, der Ueberwachung, des Tadels und Angriffs, kurz der natürliche Gegner der Partei sei. Wenn es ihnen nicht ganz leicht wird, sich sofort auf eine völlig andere Auffassung des Verhältnisses zwischen Regierung und Partei umzustellen, so ist das gewiß begreiflich; und dasselbe gilt erst recht für das Verhältnis der Parteien untereinander. Aber der Versuch muß gemacht werden, und von seinem Gelingen hängt nichts Geringeres als der ganze Gang der Staatsmaschine ab. Deshalb geht es nicht an, daß eine Regierungspartei die Regierung mit unfreundlichen Interpellationen überfällt; daß die Regierungsvorlagen nicht etwa bloß in Einzelheiten kritisiert und zu verbessern trachtet - das ist selbstverständlich und unbedenklich zulässig -, sondern grundsätzlich bekämpft, ablehnt oder doch völlig umgestaltet; daß Koalitionsparteien in wichtigen Fragen immer wieder gegeneinander stimmen; und daß solche Vorkommnisse von der einen Partei dazu benutzt werden, der anderen öffentlich vorzuwerfen, sie habe sich mit den gemeinsamen Gegnern zu einem Block zusammengetan. Wird nun dieser Block in tendenziöser Zuspitzung gar noch als "ein gegen die Sozialdemokratie stimmender bürgerlicher Block" bezeichnet, so ist das offensichtlich die reinste Parteiagitation, die nur dazu dienen soll, den Argwohn der Arbeiterschaft gegen das Bürgertum, als scheinbar gegen sie koaliert, schlechtweg wachzurufen, und die mit Regierungskunst nicht nur nichts gemein hat, sondern ihr strikt zuwiderläuft. Unterstützt wird sie auch nicht gerade durch die Haltung der Presse, die sich gleichfalls keine Beschränkungen auferlegt; und so kommt eins zum andern, um die Demokratie als dauernde Regierungsform zu diskreditieren und ihren Gegnern die schadenfrohe Feststellung zu ermöglichen, daß sie sich zwar in den Sattel geschwungen habe, aber noch lange nicht reiten könne.
In diesen Rahmen gehört auch die formulierte Erklärung, in der der Führer der sozialdemokratischen Fraktion die schwersten Bedenken seiner Partei gegen die Annahme der Verfassung zum Ausdruck brachte und deren ihr unbequeme Bestimmungen "papierene Hindernisse" nannte, die, wie die Partei vertraue, von der lebendigen Entwicklung beseitigt werden würden. Er erhielt dafür nicht bloß die lebhafte Zustimmung der Genossen, sondern auch den demonstrativen Beifall der Rechten. Wenige Minuten später, als die Schlußabstimmung beendet war, erhoben sich der Ministerpräsident und der Minister des Innern, beide gleichfalls der sozialdemokratischen Partei angehörig, um das, was Herr Löbe soeben doch eigentlich als einen Fetzen Papier von zweifelhaftem Wert gekennzeichnet hatte, als "festen Boden", als "unlösbaren Vertrag", als "Grundlage des neuen Aufstiegs für die Einzelnen und für die Gesamtheit", als "großes Werk", geeignet, "uns mit Selbstvertrauen und Stolz zu erfüllen", als "wohldurchdachten, staatsrechtlich festgefügten Neubau" zu rühmen. Das ist mehr als bloß schlechte Regie, sondern ein Zeichen dafür, daß es den regierenden Demokraten noch an der Empfindung für die Notwendigkeit der freiwilligen Ein- und Unterordnung gebricht, ohne die auch die demokratischste Demokratie der Welt, und gerade sie, nicht bestehen kann.
Quelle:
Jenaer Volksblatt Nr. 189 vom 15.8.1919
In: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00259112/JVB_19190815_189_167758667_B1_001.tif
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Schiffer#/media/Datei:SchifferEugen.jpg