Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

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Eine "magna charta des Bürgerkrieges"

Die Verfassung steht kurz vor der Unterzeichnung. Das USPD-Hauptorgan ist kein bisschen angetan. Die "sogenannte" demokratische Verfassung wird als "bürgerlich-reaktionär" gebrandmarkt und der einzige Weg zu ihrer Beseitigung sei die Diktatur des Proletariats. Die Freiheit zeigt hier ein fragwürdiges Demokratieverständnis, wenn sie das Prinzip der Verfassungsänderung per Zweidrittelmehrheit als (für die USPD) unerreichbar darstellt und daraus die Konsequenz zieht, dass die Verfassung mit "allen revolutionären Mitteln" beseitigt werden müsse.

Antikapitalistische Karikatur von 1911

Volltext:

Die Verfassung der Gegenrevolution

"Die Verfassung, das sind die Kanonen." Mit diesen lapidaren Worten ist alles gesagt. Diese Verfassung, die in Weimar vollendet worden ist, wurde nur möglich dadurch, daß die Kanonen und Maschinengewehre der Gegenrevolution die Empörung der Arbeiterschaft niederhielten. Sie ist ebenso der Ausdruck dieser Tatsache, wie der in Gesetzesform gekleidete Wille, diesen Zustand zu verewigen. Die Verfassung wäre die Besiegelung der Niederlage der Revolution in Deutschland, wenn sie wirklich Lebenskraft erhielte und für die Dauer, das Grundgesetz der staatlichen Organisation des deutschen Volkes werden sollte.

Die verfassungsgebende Nationalversammlung konnte ihr Werk vollenden, weil sich in den ersten Wochen der Revolution der gegenrevolutionäre Wille des Bürgertums begegnete mit der Furcht der Rechtssozialisten vor dem Sozialismus und der wirklich revolutionären Arbeiterschaft. Die Revolution auszustreichen und dort anzuknüpfen, wo die Revolution die Entwicklung des parlamentarischen Kompromisses zwischen Rechtssozialisten und den bürgerlichen Parteien unterbrochen hatte, das war die Aufgabe, die ihr von dem Bürgertum wie von den Rechtssozialisten vorgeschrieben wurde. Die parlamentarische Entwicklung vor der Revolution zielte auf eine monarchische Demokratie ab, in der etwa nach dem Vorbild des englischen Demagogen Lloyd George der Arbeiterschaft gewisse soziale Zugeständnisse gemacht wurden, während im übrigen die Grundlage der Gesellschaft unerschüttert bleiben sollte. Eine Revolution mußte eine solche Zielsetzung überholen. Deshalb zitterten die Rechtssozialisten vor dem November, vor der Revolution, und Herr Ebert und der "Vorwärts" deklamierte noch am Tage vor der Revolution, daß man sich gegen sie in die Bresche werfen müsse. Allein die Revolution kam. Mit ihr die Entfesselung der stürmischen Forderung der klassenbewußten Arbeiterschaft nach dem Sozialismus. Jetzt galt es für die Rechtssozialisten, sich zu entschließen, ob sie durch die Diktatur des Proletariats zum Sozialismus gelangen oder gegen das Proletariat ihre Politik des Vornovember fortsetzen wollten. Die Konsequenz ihrer gesamten Politik führte sie zu dem letzteren. Die demokratische Monarchie war erledigt, und die Monarchisten von gestern mußten Republikaner von heute werden. So ergab sich von vornherein als Aufgabe: Schaffung einer bürgerlich-demokratischen Republik, Sicherung des Eigentums und des Kapitalismus durch die Verfassung, Schaffung von Garantien gegen die Weiterführung der Revolution. Die Verfassung, die schließlich von der Nationalversammlung zustande gebracht wurde, erfüllt diese Aufgabe.

Unter den drei Gesichtspunkten betrachtet: Schaffung einer bürgerlich-demokratischen Republik, Sicherung des Eigentums und des Kapitalismus, Schaffung von Garantien gegen die Weiterführung der Revolution, enthüllt die Verfassung ihren ausgesprochen gegenrevolutionären Charakter. Sie enthält zuerst einen sogenannten konstruktiven Teil, der die Artikel 1 bis 106 über die Grundrechte und die Artikel 107 bis 173 umfaßt. Der konstruktive Teil handelt über den Aufbau, über Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung im Reiche. Schon hier zeigt sich, daß diese Verfassung nicht einmal den strengen Grundsätzen der formalen Demokratie entspricht: denn es ist keine demokratische Republik geschaffen worden, sondern ein neuer Obrigkeitsstaat, in dem der Reichspräsident im Verein mit der alten Bureaukratie und der alten Klassenjustiz eine so beträchtliche Macht darstellt, daß von einer reinen Parlamentsherrschaft nicht gesprochen werden kann.

[...]

Die Verankerung des Kapitalismus in dieser Verfassung ist im 5. Hauptabschnitt über das Wirtschaftsleben erfolgt. Artikel 148 setzt fest, daß die Freiheit von Handel und Gewerbe gewährleistet ist. Artikel 149 gewährleistet die Vertragsfreiheit im Wirtschaftsleben, Artikel 150 enthält den lapidaren Satz: Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet, und Artikel 151 gewährleistet das Erbrecht. Alles andere, was dieser Abschnitt noch über sogenannte Gemeinwirtschaft enthält, läuft auf die Schaffung staatskapitalistischer oder gar nur gemischtwirtschaftlicher Einrichtungen, vor allem zu fiskalischen Zwecken, hinaus, wie aus dem Gesetz über die sogenannte Vergesellschaftung der Elektrizitätswirtschaft zur Genüge hervorgeht.

Diese Verfassung, die Verewigung der bürgerlichen Herrschaft und Verewigung des Kapitalismus bedeutet, steht im schroffsten Widerspruch zum Willen der klassenbewußten Arbeiterschaft, der den Sozialismus durch die Diktatur des Proletariats fordert. [...] Denn die Deklamation des Herrn David, daß nun die Arbeiterschaft durch die bloße Anwendung des Wahlrechts den Sozialismus auf gesetzlichem und verfassungsmäßigem Wege verwirklichen kann, ist nichts als Betrug. Die Verwirklichung des Sozialismus auf diesem Wege kann nur durch eine Verfassungsänderung erfolgen. Eine Verfassungsänderung jedoch erfordert eine Zweidrittelmehrheit im Reichstage. So bleibt der Arbeiterschaft nur der Weg der Revolution zur Durchführung ihrer Ziele. Gegen die kommende Revolution nun soll diese Verfassung gesichert werden durch eine Reihe von Bestimmungen, die ihr durchaus den Charakter eines reaktionären Ausnahmegesetzes geben.

Zu diesen Bestimmungen gehört nicht zuletzt das Schulkompromiß. Die Schule ist ein Machtinstrument in der Hand dessen, der sie skrupellos ausnützt. Die Tatsache, daß durch die Verfassung die Schule in die Hand der Kirche gegeben wird, ermöglicht es den reaktionären Elementen, in der kommenden Generation das Verdummungshandwerk fortzusetzen und so zum Teil wenigstens zu verhindern, daß ein neues, wirklich sozialistisch denkendes, von den Idealen einer großen Menschheitsgemeinschaft erfülltes Geschlecht heranwächst, das allen reaktionären kapitalistischen Einrichtungen für immer ein Ende machen wird. Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, ist das Schulkompromiß nicht nur eine Kulturschande, sondern ebensogut ein politisches Ausnahmegesetz, wie der berüchtigte Artikel 49, der den Belagerungszustand als eine verfassungsgerechte Maßregel festsetzt, und der in seiner Konsequenz nicht anderes bedeutet, als die Möglichkeit, alle sogenannten Rechtsgarantien dieser Verfassung außer Kraft zusetzen und die Diktatur der Bourgeoisie zu errichten, wenn aus einer bürgerlichen oder bürgerlich-rechtssozialistischen Parlamentsmehrheit gefällt.

Durch diesen Artikel 49 wird die Verfassung klar gekennzeichnet als ein Instrument des Klassenkampfes gegen die Arbeiterschaft. Sie, die von dem Reichsminister David gefeiert wurde als die Besiegelung des inneren Friedens ist nichts anderes als die magna charta des Bürgerkrieges, die Kriegserklärung an das Proletariat, die ständige Drohung mit den Kanonen und Maschinengewehren der Reaktion. Diese Verfassung, das sind allerdings Kanonen, die heute noch scheinbar auf den Wink Noskes losgehen, die aber morgen schon die bürgerlich-kapitalistische, und wer weiß, wie bald schon, die monarchistische Reaktion nicht nur heimlich, sondern in aller Offenheit kommandieren wird.

Diese Verfassung, die das Ende der deutschen Revolution in Deutschland bedeuten soll, ist zugleich die Verewigung der Schande der rechtssozialistischen Partei. Die genaue Schilderung der Schandtaten gegen den Geist des Sozialismus, gegen die Arbeiterschaft und gegen ihr eigenes Programm, die sie während der Verfassungsberatung begangen haben, würde ein Buch füllen. Wir begnügen uns mit der summarischen Aufzählung ihrer Taten, die keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. [...]

Die deutsche Revolution ist aus, wenn sie nicht noch leben würde in den Köpfen der deutschen Arbeiterschaft. Die revolutionären Kräfte sammeln sich, und der Zusammenschluß der revolutionären Arbeiterschaft, der am 27. Juli in Halle in die Wege geleitet worden ist, wird dieser Verfassung die lebendige Entwicklung, wird den Kanonen eines Noske die wirtschaftliche Kraft eines einigen Proletariats entgegensetzen. Denn die Verfassungsmacher von Weimar müssen wissen: Die revolutionäre Arbeiterschaft in Deutschland wird sich nicht auf diese Verfassung einrichten, sondern sie wird sie bekämpfen mit allen revolutionären Mitteln, um eine Verfassung im Geiste des Proletariats an ihre Stelle zu setzen.

Quelle:

Freiheit Nr. 370 vom 5.8.1919

In: http://fes.imageware.de/fes/web/

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Diktatur_des_Proletariats#/media/Datei:Pyramid_of_Capitalist_System.jpg

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Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
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(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)