Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

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Er war ein "Romantiker der Demokratie"

Friedrich Naumann war eine der zentralen Figuren des deutschen Liberalismus. Streitbar, kreativ und redegewaltig hatte er sich auch in die Nationalversammlung eingebracht. Das Berliner Tageblatt bringt einen würdigenden, aber nicht unkritischen Nachruf.

Friedrich Naumann - Porträtskizze von Max Liebermann

Volltext:

Heute nachmittag fünf Uhr ist Friedrich Naumann in Travemünde einem Schlaganfall erlegen.

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Wir erfahren dazu folgende Einzelheiten:

Friedrich Naumann trag am Sonntag mittag in Travemünde zum Besuche seiner Frau ein, die aber aus Unkenntnis der Absicht ihres Mannes am Vormittag bereits abgereist war. In der Villa Sanssouci, in der Naumann wohnte, bekam er um 2 1/2 Uhr plötzlich einen Schlaganfall. Sein Zustand galt dem im Hause wohnenden Arzt Dr. Schwicke von vornherein als aussichtslos. Er und ein Hamburger Großkaufmann Hintze waren die ersten, die dem Erkrankten Hilfe leisteten. Man gab Dr. Naumann starke Morphiumeinspritzungen, die aber keinen Erfolg mehr hatten, denn um fünf Uhr trat der Tod ein. Infolge jenes Irrtums, der das geplante Zusammentreffen mit der Gattin vereitelte, war in der Sterbestunde Naumanns keines seiner nächsten Familienmitglieder bei ihm.

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 E. D. Ganz plötzlich ist Friedrich Naumann gestorben. Denen, welche ihn näher kannten kommt die Todeskunde nicht überraschend, denn sie wußten, daß sein Leben in absehbarer Zeit einmal so abschließen würde. Schon seit Jahren krankte er an seinem Herzen, das für den riesigen Körperbau zu schwach war und das, weil es nicht so schnell und so impulsiv mitkonnte, wie der nie rastende Geist, ihm immer wieder neue Beschwerden bereitete. Mit Friedrich Naumann scheidet der große Romantiker der deutschen Demokratie von der Bühne der Politik. Ein überaus reiches Leben hat damit einen jähen Abschluß gefunden.

In Störnthal, einen kleinen Orte bei Leipzig, wurde Naumann am 25. März 1860 geboren. Seine Eltern schickten ihn zuerst auf das Nikolai-Gymnasium zu Leipzig und dann auf die Fürstenschule in Meißen. In Leipzig und Erlangen studierte er Theologie. Aber mit bloßem Predigen hielt er sich nach beendetem Studium nicht lange auf. Wie ein werktätig dienender Ordensbruder des Mittelalters ging er ins Rauhe Haus zu Hamburg; die innere Mission war sein Feld. Helfen wollte er den Menschen, seelisch und körperlich sollten die Müden und Armen wieder aufgerichtet werden. - Ueber Glauchau, die trübe sächsische Fabrikstadt, kam er nach Frankfurt a. M.; das war ums Jahr 1890, als nach dem kaiserlichen Februarerlasse sich eine neue soziale Aera ankündigte. Naumann machte den Sturm und Drang dieser Jahre hoffenden Herzens mit. Die Stöckermannen, die Christlichsozialen, standen ihm damals am nächsten. Seine erste Schrift stellte ein soziales Programm für die evangelische Kirche auf. "Was ist christlichsozial?" fragte er in einem weiteren Buche, und unter dem tiefen Eindruck seiner Tätigkeit als Vereinsgeistlicher der inneren Mission schrieb er: "Soziale Schriften an reiche Leute". Gleichzeitig baute er am christlichen Glauben herum: "Jesus als Volksmann", "Gotteshilfe" usw.

Auf die Dauer fühlte er sich in den Reihen der Christlichsozialen nicht wohl. Er wollte, er mußte seine eigenen Wege gehen. Eine Menge Gleichgesinnter scharte er um sich. Theologen, Studierende, alles Leute, die aus der Enge ihres Berufes hinaus ins Weite wirken wollten. Die nationalsoziale Partei wurde gegründet: Staatssozialismus und Demokratie auf der einen, Heer- und Flottenbegeisterung auf der anderen Seite. Die "Hilfe" wurde das Organ dieser Jungen. Eine neugegründete Tageszeitung "Die Zeit", fristete nur ein kurzes Dasein. 1898 gingen die Nationalsozialen in den ersten Wahlkampf. Das Resultat war gleich Null. Naumann selbst unterlag in Jena-Neustadt. [Ernst] Bassermann [der spätere Vorsitzende der Nationalliberalen Partei, Anm.] stach ihn aus. Fünf Jahre später war das Wahlergebnis nicht besser. Naumann unterlag wieder. Nur zwei Nationalsoziale kamen in den Reichstag, Gerlach und Potthoff. Nun löste sich die Partei auf. Die einen gingen zur Sozialdemokratie, die andern zur Freisinnigen Vereinigung über. Naumann schloß sich den Rickert, Mommsen und Gothein an. Sein nationalsoziales Bekenntnis ist in seinem Werke "Demokratie und Kaisertum" niedergelegt. Beides hielt er für wohl vereinbar. In der "Neuen deutschen Wirtschaftspolitik" rechtfertigte er die kapitalistische Wirtschaftsordnung, ließ aber die Frage offen, ob später, in ferner Zukunft, wenn die ganze Welt durchkapitalisiert sei, nicht der Sozialismus von selbst kommen werde. Auch aestethische Gedanken fesselten ihn; pädagogische und alle Probleme wußte er mit glitzernden Gedanken zu zergliedern.

Im alten Freisinn konnte er sich nur schwer durchsetzen. Seine erste Reichstagsrede da er endlich als Vertreter Heilbronns (1907) ins Parlament gekommen war, wurde von der gesamten Presse wie eine Sensation besprochen. Das Verhältnis von Arbeitern und Arbeitgebern im Industriekapitalismus war das Thema. Später hatte er dann häufig zu allen möglichen Fragen das Wort ergriffen. Immer lauschte das Haus mit größter Aufmerksamkeit seinen geistvollen Ausführungen, und in Volksversammlungen hatte er stets eine begeisterte Zuhörerschaft.

Friedrich Naumann war ein Mensch mit stark wuchernder Phantasie und Intuition. Im letzten Grunde war er eine Künstlernatur. Er besaß ein feines Ahnungsvermögen, eine politische Witterung, aber die kühlwägende Ader des Realpolitikers hatte er nicht. So schaute er prophetisch in die Ferne und übersah dabei doch mitunter die Hemmungen und die Forderungen des Tages. "Mitteleuropa" glaubte er am politischen Horizont entstehen zu sehen und gewahrte nicht die ungünstigen Rückwirkungen dieser Idee, die er mit der ganzen Leidenschaft seines übervollen Herzens längere Zeit propagierte. Die Demokratische Partei, welche ihn erst noch auf dem konstituierenden Parteitage in Berlin zu ihrem Vorsitzenden erkor, verliert in ihm eine sehr starke suggestive Persönlichkeit. Mit Friedrich Naumann, der wie kaum ein anderer über eine Ideenfülle ohne gleichen verfügte, und der in Wort und Schrift ein Künstler war, geht der Repräsentant einer idealistisch gerichteten freiheitlichen Politik in eine andere Welt. Ihm war es nicht mehr vergönnt, den Neubau des Deutschen Reiches, an dem er mit ganzer Seele teilnahm, mit vollenden zu helfen. Schon in den letzten Wochen hatte er der Nationalversammlung aus Gesundheitsrücksichten fern bleiben müssen.

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Naumann war für die Nationalversammlung als Erster auf der demokratischen Liste im Wahlkreis Stadt Berlin gewählt. An seine Stelle tritt, da im Falle, wo ein Gewählter ausscheidet, der erste nicht gewählte Kandidat der Liste nachrückt, Fräulein Dr. Marie Elisabeth Lüders.

Quelle:

Berliner Tageblatt Nr. 396 vom 25.8.1919

In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1919-08-25/27646518/

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Naumann#/media/Datei:Liebermann_Naumann.jpg

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Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
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(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)