Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

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Nationalversammlung debattiert Sozialisierungen

Für die MSPD verteidigt Hermann Kahmann einen Gesetzesentwurf betreffend die Sozialisierung der Elektrizitätswirtschaft. Bereits die Zurufe zeigen, dass nicht nur die MSPD, sondern auch die DDP nicht abgeneigt ist, dem Gesetz zuzustimmen. Freien Wettbewerb hält der Redner nicht für einen kostensenkenden Faktor.

Volltext:

Sehr geleerte Versammlung!

(Heiterkeit.)

Mit der Einbringung der Vorlage zeigt die Reichsregierung, daß sie gewillt ist, auf dem uns verheißenen Wege vorwärts zu marschieren. Die in den Regierungserklärungen abgegebenen Worte werden hier zum zweiten Male zur Tat. Wir Sozialdemokraten begrüßen es, daß die Reichsregierung von Worten zur Tat übergeht. Wir begrüßen die Vorlage um deswillen, daß bald das wichtige Gebiet der Braunkohleerzeugung sozialisiert werden soll. Nach unserer Ansicht gehören die Verkehrsmittel, Kohle, Wasserkräfte und die elektrische Energie zusammen. Das Reich hat seit vielen Jahrzehnten fast ausnahmslos die großen Verkehrsmittel in der Hand und kann der Mittel, aus denen es Energie bezieht, nach unserer Auffassung nicht entbehren. In den Verkehrsmitteln, Kohlen, Wasserkräften und in der elektrischen Energie liegt die Kraft, mit der der Kapitalismus gebändigt, die soziale Demokratie erreicht und die Gesundung der Volkswirtschaft und der Reichsfinanzen erwirkt werden kann. Selbstverständlich kann nach unserer Ansicht auch durch diese Mittel den natürlichen und begreiflichen Auswüchsen des freien Spiels der Kräfte nicht unerheblich entgegengearbeitet werden. [...]

Wir Sozialdemokraten erstreben auch auf  diesem Gebiete [der Wasserkraft, Anm.] die volle Sozialisierung und glauben, daß die volle Sozialisierung möglich ist. Aber so wenig Rom an einem Tage erbaut worden ist, so werden wir auch auf diesem Gebiete nicht mit einem Schlage das erstrebenswerte Ziel erreichen können. Ich darf aus dem Grunde die Erklärung abgeben, daß wir die Beweggründe, die die Reichsregierung veranlaßt haben, diese Vorlage einzureichen, durchaus verstehen und begreifen. Wir sind, wie das häufig in der Nationalversammlung zum Ausdruck gebracht ist, ein armes Volk, und weil wir es leider sind, können wir uns kostspielige Experimente nicht leisten.

(Sehr richtig! bei den Deutschen Demokraten.)

Solche Experimente hätten im Deutschen Reich vor dem Krieg eventuell unternommen werden können, obwohl sie auch damals eine Versündigung am Volksvermögen gewesen wären. Heute aber müssen derartige Pläne ganz entschieden von uns abgelehnt werden.

Sozialisierung betreiben wir Sozialdemokraten nicht aus Liebhaberei, sondern aus innerer Überzeugung,

(sehr richtig! bei den Sozialdemokraten)

und weil die Not des Volkes und die Lage unserer Volkswirtschaft uns dazu zwingt.

(Sehr richtig! bei den Sozialdemokraten.)

Gerade der Umstand, daß wir es mit der Sozialisierung ernst meinen, verpflichtet uns, mit großer Vorsicht die Überführung der Produktionsmittel in das Eigentum des Volkes vorzunehmen.

(Sehr wahr! bei den Deutschen Demokraten.)

[...]

Der Einwand, daß der freie Wettbewerb die Leistungsfähigkeit nur steigern kann, gilt nach unserer Auffassung als hinfällig. Abhängig von den Leistungen ist ja eigentlich nur die Technik, und die Technik feiert ihr Können in Betrieben, die nicht sozialisiert werden, in denen die Maschinen hergestellt worden sind und in Zukunft hergestellt werden.

Wir Sozialdemokraten erblicken, wie der Herr Reichsschatzminister, in der Vorlage einen kräftigen Lebenswillen des deutschen Volkes. Wir bezeichnen die Vorlage als eine geeignete Unterlage, um der Volkswirtschaft und dem deutschem Volke in weitgehendem Maße zu helfen. Wir wollen, daß das Gesetz ausgebaut wird, um den Wiederaufstieg des deutschen Volkes zu ermöglichen und ihm freie Bahn zu machen. Das Gesetz wird eine Abschlagszahlung an den werbenden Geist des Sozialismus sein. Wir Sozialdemokraten halten die Vorlage in ihren Grundzügen für gut. Wir werden in der Kommission Verbesserungsanträge stellen. Wir werden dafür sorgen, daß die Vorlage in sozialistischem Sinne weiter ausgebaut wird, und wir zweifeln nicht daran, daß die Nationalversammmlung die Vorlage zum Gesetz erhebt, und wir glauben, daß wir damit einen Schritt dem Berggipfel näher kommen, von dem aus wir einst den blühenden Sozialismus zu unsern Füßen liegen sehen werden.

(Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.)

Hermann Kahmann

Quelle:

Stenographische Berichte der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, 75. Sitzung vom 9. August 1919

In: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000013_00148.html

 

Bild:

https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Kahmann#/media/Datei:WP_Kahmann_Hermann.jpg

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Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
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(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)