Unruhe in Oberschlesien
Oberschlesien ist gleich doppelt gestraft. Als Kohlegebiet müssen die Arbeiter angesichts der allgemeinen Kohlenot Überstunden schieben. Gleichzeitig ist die Kohle auch von polnischer Seite sehr begehrt. Eine Volksabstimmung soll nach dem Willen der Entente über die Zugehörigkeit der Provinz entscheiden. Im Vorfeld der Volksabstimmung mehren sich die wirtschaftlichen und politischen Spannungen. Die Freiheit kritisiert das Krisenmanagment des Staatskommissars Otto Hörsing (MSPD) scharf. Doch die wahren Belastungsproben kommen erst nach Hörsings Versetzung im Frühjahr 1920.
Volltext:
Oberschlesiens Verderber.
Regierungssoldaten als Streikbrecher.
Nach einer uns zugegangenen Meldung dauerte der Generalstreik auch am Sonnabend noch an. Die Lichtwerke hat Herr Hörsing durch Militär wieder in Gang setzen lassen, den Arbeitern wurden Arbeitsbefehle zugeschickt. Seine Pressestelle meldet ferner:
Kattowitz, 16. August.
Seit Sonnabend mittag 3 Uhr sind die Oberschlesischen Licht- und Kraftwerke Chorzow und Zaborze wieder in Betrieb. Der Streik geht indessen noch weiter. Die Lichtwerke werden von Genietruppen [also eine Ingenieurstruppe, Anm.] bedient. Es ist jedoch begründete Aussicht vorhanden, daß der Streik als solcher selbst in kürzester Zeit beendet sein wird und daß die Regierung in die Lage versetzt wird, die Truppen von den Lichtwerken zurückzuziehen.
Auch in dem Ausstand auf den Bergwerks- und Hüttenbetrieben, der augenblicklich fast unverändert noch weiter geht, macht sich bei der Arbeiterschaft mehr und mehr besonnene Einsicht geltend. Mehr wie sonst tritt bei diesem Ausstand das Moment der bösesten spartakistischen Verhetzung klar zutage. Die Hetzereien sind die Seele dieser, die gesamte deutsche Volkswirtschaft so schwer schädigenden, direkt lähmenden Bewegung. Schwirren doch Gerüchte, daß der Streik darum weitergehe, weil unverantwortliche Hetzer die Meinung auszustreuen wußten, die Regierung beabsichtige, die neunstündige Arbeitsschicht und eine erhebliche Lohnreduzierung einzuführen. Das wäre der wahre Streikgrund der Massen, die durchaus nicht sich mit den sogenannten Streikforderungen identifizieren. Es kann nur amtlich versichert werden, daß das eine große spartakistische Verhetzung ist. Die Regierung denkt nicht daran, an dem Acht-Stundentag zu rütteln, wie sie auch nicht daran denkt, die Errungenschaften der Arbeiterschaft zu beschneiden. Allerdings liegt es auch an der Arbeiterschaft, energisch Front zu machen gegen diese Art von Verhetzung, die nachgerade zur Totengräberei für unser gesamtes Wirtschaftsleben auszuwachsen beginnt.
Zu welchen traurigen Folgen die Verhetzung der Massen führt, zeigt wieder ein Vorkommnis in Myslowitz, wo bei der Lohnzahlung auf Myslowitzer Grube eben infolge dieser skrupellosen Verhetzung es zu einem Zusammenstoß zwischen Militär und Streikenden kam, wobei leider vier Tote und vier Verwundete zu beklagen sind. Der tief bedauerliche Vofall wird eingehend untersucht, und die Schuldigen, mögen sie auch sein, wer sie wollen, werden ihrer gerechten Strafe nicht entgehen. Möge in letzter Stunde die Bevölkerung zur Besinnung kommen, Ruhe und Ordnung wieder in dem Industriebezirk einkehren.
Dieser Bericht trägt den Stempel der Verlogenheit an der Stirn. Wenn darin von einem "Moment der bösesten spartakistischen Verhetzung" geredet wird, so muß doch darauf hingewiesen werden, daß der Streik einmütig von der ganzen oberschlesischen Arbeiterschaft durchgeführt wird trotz des Arbeitszwanges, den Herr Hörsing ohne jede gesetzliche Grundlage gegen die Arbeiter angeordnet hat. Zudem muß daran erinnert werden, daß es schon seit Wochen weder den Kommunisten noch den unabhängigen Sozialdemokraten möglich ist, Versammlungen abzuhalten. Die ganze Presse dieser beiden Parteien ist unterdrückt. Auf welche Weise soll also die "spartakistische Hetze" zustande gekommen sein?
In Wirklichkeit sind die Gründe für den Streik ganz wo anders zu suchen. Der Anstand ist eine Frucht der von Hörsing betriebenen Gewaltpolitik. Auch die jetzigen Maßnahmen werden keine dauernde Beruhigung schaffen, sondern im Gegenteil die Erbitterung noch verstärken. Wir haben das schon wiederholt hervorgehoben und wir müssen jetzt ernstlich an die Regierung die Forderung stellen, Herrn Hörsing, den man als den Verderber Oberschlesiens bezeichnen kann, abzuberufen und eine andere Politik den oberschlesischen Arbeitern gegenüber einzuschlagen. Die Berufung auf die Gewerkschaftsführer, die mit dem Verhalten Hörsings einverstanden sind, ist verfehlt. Die Gewerkschaften haben sich durch das Verhalten ihrer Beauftragten jeden Einflusses auf die oberschlesischen Arbeiter begeben, was im Interesse der gesamten Gewerkschaftsbewegung zu bedauern ist. Aber mit Drohungen gegen die Arbeiter schafft man jetzt nichts; auch damit wird man keinen dauernden Frieden herstellen, daß man den Ausstand in Oberschlesien als einen wilden Streik bezeichnet. Wer in der letzten Stunde Oberschlesien für Deutschland retten will, der muß verlangen, daß dort sofort eine Politik der Versöhnung beginnt. Dazu gehört die Aufhebung des Belagerungszustandes, die Entlassung der politischen Gefangenen, die Zurückziehung des Militärs aus dem Industribezirk, die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter, die Befriedigung der kulturellen Forderungen der polnischen Mehrheit des Bezirks. Läßt die Regierung Herrn Hörsing und seine Helfershelfer weiter in Oberschlesien wüten, so geht Oberschlesien unrettbar für Deutschland verloren.
Quelle:
Freiheit Nr. 392 vom 17.8.1919
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Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_H%C3%B6rsing#/media/Datei:HörsingOtto.jpg