Verbrennt Erzberger!
Der Reichsfinanzminister Matthias Erzberger wird nicht nur von Rechtsextremen stark angefeindet. Als einer der ersten Politiker hatte er sich ein weitverzweigtes Netzwerk an politischen Kontakten in verschiedenste Richtungen aufgebaut. Was heute gang und gäbe ist, war Erzbergers Zeitgenossen zutiefst suspekt. In der rechtsradikalen Propaganda war es üblich ihn wahlweise als Marionette des Vatikans oder der Juden darzustellen und Erzberger eine maßgebliche Verantwortung für die deutsche Kriegsniederlage zuzuschieben. Die Erzählung vom "Dolchstoß in den Rücken der siegreichen Front" war eine enorm wirkungsvolle Verschwörungstheorie, deren Anhänger Erzberger schließlich ermordeten. Aber schon 1919 hätten rechts gesinnte Kreise den "widerwärtigen Lump" am liebsten auf einem Scheiterhaufen verbrannt wie aus diesem Zeitungsbericht hervorgeht.
Volltext:
Ein italienisches Urteil über Erzberger.
Bevor noch die vatikanische Information der "Italia" bekannt war, wonach es sich bei der Aktion des Münchener Nuntius nicht um einen englischen Friedensvorschlag, wie Erzberger glauben machen wollte, sondern um die von der päpstlichen Kanzlei der deutschen Regierung übermittelte englische Antwort auf die päpstliche Friedensnote handelte, entwirft der "Corriere della Sera" in einem redaktionellen Artikel folgendes Bild von Herrn Erzberger:
"Zu den widerwärtigsten Erscheinungen unserer Zeit gehört es, daß sich hier und da zweifelhafte Elemente in den Vordergrund drängen. Sowohl in den Ländern der Sieger als in denen der Besiegten gibt es eine Industrie, welche die Ergebnisse des Krieges in ähnlicher Weise auszubeuten trachtet, wie eine andere den Krieg selber ausgebeutet hat. Den Rohstoff zu dieser Tätigkeit bilden Kühnheit und der völlige Mangel an Gewissen. Zu diesen Elementen gehört Erzberger. Während des Krieges war er, je nachdem woher der Wind wehte, Annexionist oder Pazifist. Vor allem aber war er der Hauptvertreter des Prinzips der Korruption als Kampfmittel in Deutschland. Er unternahm es, den Krieg in der Kloake zu führen, und man sah, daß ihn seine Wesensart auf das Leben in der Kloake hinwies. Heute spielt dieser rotbackige Lump in dem unterlegenen Deutschland eine beherrschende Rolle. Nach jedem Schiffbruch die Fahne wechselnd, führt er sogar auf dem neuen Schiff, das er besteigt, das Kommando. Um sich die Gunst der Extremen zu erringen, möchte er das deutsche Nationalvermögen dezimieren, und das Spiel scheint ihm zu gelingen.
Heute versichert uns nun Erzberger, daß England im Jahre 1917 mit Zustimmung Frankreichs durch Vermittlung des Vatikans Deutschland habe bekannt geben lassen, daß es bereit sei, in Verhandlungen über den Frieden einzutreten, sofern Deutschland die Unabhängigkeit Belgiens gewährleiste. Diese Sache bedarf der Aufklärung nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Verbandsländern. In Frankreich bezichtigt Ribot bereits Erzberger der Fälschung. Die englischen Diplomaten sowie der Vatikan schweigen noch, aber sie werden sprechen müssen. Das italienische Volk darf jedenfalls beanspruchen, aufgeklärt darüber zu werden, ob die Regierung über den angeblichen Schritt des Vatikans unterrichtet war. Wir müssen das wissen, um uns ein Urteil über das Verhalten unserer Verbündeten gegenüber Italien bilden zu können. Von englischer Seite werden wir wahrscheinlich bald erfahren, daß der päpstliche Nuntius, sei es aus eigener Initiative, sei es auf Befehl des Kardinal-Staatssekretärs, übertrieb, indem er dem Vorgang eine Bedeutung beilegte, die er nicht besaß. Oder hat Erzberger aus niedrigen Gründen der Polemik gelogen, und ist er ein gewöhnlicher Fälscher? Dies halten wir für das wahrscheinlichste, denn über den Strategen Erzberger geben wir uns keinen Illusionen hin."
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Ein Volksgericht über Erzberger.
Als ein sehr lehrreiches Symptom für die allgemeine Mißstimmung gegen Erzberger darf folgende Nachricht angesehen werden, die der Draht aus München meldet:
Auf dem Kellnerberg bei Fischhausen am Schliersee ist Matthias Erzberger auf einem fünf Meter hohen Holzstoß in absentia verbrannt worden. Er wurde verurteilt, wie ein Plakat am Scheiterhaufen besagte, von einem Volksgericht in vier Fällen wegen Hochverrats, begangen:
1. durch Zerrüttung des deutschen Siegeswillens von 1917;
2. durch Wehrlosmachung des Volkes am 9. Novbr. 1918;
3. durch den Vernichtungswillen vom 28. Juli 1919 sowie
4. durch böswillige Auslieferung der deutschen Handelsflotte usw. Die Flammen loderten fünfzehn Meter hoch bis Mitternacht zum Himmel empor.
Quelle:
Greifenhagener Kreiszeitung Nr. 91 vom 7.8.1919
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1919-08-07/26824255/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Erzberger#/media/Datei:Stab-in-the-back_cartoon_1924.jpg