Wer hat Schuld am Krieg?
Die Nationalversammlung beschloss auch die Einrichtung eines obersten Gerichtshofes, der unabhängig von den anderen Institutionen in der Lage sein müsse, politische Streitfragen zu schlichten. Der Staatsgerichtshof als Vorläufer des heutigen Verfassungsgerichtes hat laut der unten stehenden Regierungserklärung eine ungewöhnliche erste Aufgabe: er soll die Frage klären, welche deutschen Politiker für den Ausbruch und die Weiterführung des Weltkrieges mitverantwortlich sind.
Volltext:
Die Frage nach den Ursachen des Unglücks, das über Deutschland hereingebrochen ist, bewegt das deutsche Volk aufs tiefste. Das Volk fordert Aufklärung, durch wessen Schuld der Krieg verursacht wurde, warum er nicht früher beendet worden ist, und ob sich seine verderblichen Folgen nicht ganz oder teilweise hätten abwenden lassen. Diese Fragen erschöpfend zu beantworten, ist letzten Endes die Aufgabe der Geschichtsschreibung; ein Gerichtshof kann heute zu den Fragen jedenfalls nur dann ein abschließendes Urteil abgeben, wenn ihm die Archive aller am Kriege beteiligten Völker und die Aussagen ihrer Staatsmänner und Heerführer zur Verfügung stehen. Beseelt von der redlichen Absicht, der Wahrheit zu dienen, der Mitwelt nichts vorzuenthalten und die Schuldigen nicht zu schonen, hat die Reichsregierung deshalb versucht, die Einsetzung einer Internationalen Untersuchungskommission mit weitgehendsten Befugnissen zur Feststellung des Tatbestandes zu erwirken. Der Plan ist aber bei unseren Gegnern auf entschiedene Ablehnung gestoßen.
Die Reichsregierung sieht sich somit zur Zeit außerstande, diese Absicht zu verwirklichen. Sie ist aber entschlossen, durch jene Ablehnung die Klärung der weiteren Fragen nicht verzögern zu lassen, ob Deutsche gegenüber ihrem Vaterland ein Verschulden dafür trifft, daß der Krieg ausgebrochen, unnötig verlängert worden ist oder verloren ging. Sie schlägt deshalb der Nationalversammlung als der Trägerin der Volkssouveränität die Einsetzung eines Untersuchungs-Ausschusses aus ihrer Mitte vor, um die Ereignisse zu prüfen, die zu dem Zusammenbruch Deutschlands geführt haben. Die Aufgabe des Untersuchungs-Ausschusses wäre sonach beschränkt auf die Prüfung, ob Deutsche, die vermöge ihrer Stellung im öffentlichen Leben Einfluß auf jene Entwicklung der Dinge hatten, in begründetem Verdacht stehen, zu dem Ausbruch, der Verlängerung und dem Verluste des Krieges schuldhaft beigetragen zu haben. Ist so der Nationalversammlung in gewissem Sinne die Rolle des politischen Anklägers zugewiesen, so erfolgt die endgültige Entscheidung über die Schuldfrage durch einen Gerichtshof, der dem politischem Parteileben fernsteht und ohne Voreingenommenheit, nur seinem Gewissen verantwortlich, unparteiisch Recht sprechen wird. Die Zusammensetzung des Gerichtshofs aus höchsten Richtern des Reichs und aus Vertrauenspersonen der Nationalversammlung und des Staatenausschusses entspricht der Bedeutung der Aufgabe, die ihm gestellt ist. Um die volle Unabhängigkeit des Staatsgerichtshofs von der Nationalversammlung vor dem Staatenausschuß sicherzustellen, ist bestimmt, daß Mitglieder dieser beiden Körperschaften bei der Entscheidung über die Schuldfrage nicht mitwirken dürfen. Da dem Gerichtshof die außerhalb Deutschlands befindlichen Beweismittel nicht zur Verfügung stehen, kann sich die Notwendigkeit ergeben, um möglichst Klarheit zu schaffen, den Beschuldigten selbst über Tatsachen, Erwägungen oder Eindrücke, die auf anderem Wege nicht erweisbar sind, eidlich zu vernehmen. Diese außergewöhnliche Maßnahme erscheint um so unbedenklicher, als es sich hier nicht um ein Strafverfahren im rechtlichen Sinne des Wortes handelt und dem Beschuldigten die Möglichkeit der Rechtfertigung nicht versagt werden sollte.
Quelle:
Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 274 f.