BTB: Reichsrätekongress akzeptiert Wahlen zur Nationalversammlung
Bis zum 20. Dezember tagte der Reichsrätekongress in Berlin. Immerhin konnten sich die Delegierten auf einen entscheidenden Punkt einigen: die Wahlen zur Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung sollten am 19. Januar stattfinden. Ein Erfolg, der auch von der liberalen Presse ersehnt wurde. Diese erkannte zugleich aber die Dringlichkeit für die anderen Parteien, die strukturellen Vorteile der Sozialdemokratie aufzuholen, um bei den Wahlen nicht leer auszugehen.
Volltext:
P.M. Mit einem Hoch auf das einige revolutionäre Deutschland ging der Delegiertenkongreß der Arbeiter- und Soldatenräte gestern nachmittag auseinander. Er hat, wie der geschickte, wenngleich etwas zaghafte Vorsitzende Leinert zum Schluss feststelle konnte, Beschlüsse von großer Tragweite gefaßt und die auf ihn gesetzten Erwartungen gerechtfertigt. Wiederholt hatte es allerdings den Anschein, als ob der Kongreß durch die scharfen Gegensätze zwischen der Mehrheitssozialdemokratie und den bolschewistischen Elementen auseinandergesprengt werden würde. Noch in der Abschiedsstunde kam es zu einer lärmenden, durch Herrn Ledebour hervorgerufenen Auseinandersetzung. Vergebens versuchte der Volksbeauftragte Scheidemann, sich zu Rechtfertigung seines Standpunktes Gehör zu schaffen; die Gegner brüllten ihn nieder, und er mußte sich damit begnügen, auf den 19. Januar hinzuweisen, an dem das Volk richten werde.
Der wichtigste Beschluß des Kongresses bezieht sich auf die Anberaumung der Wahlen zur Nationalversammlung auf den 19. Januar. Daß er mit einer Mehrheit von 400 gegen 50 gefaßt werden konnte, läßt mit voller Klarheit erkennen, wie stark sich die Ueberzeugung von der Notwendigkeit einer baldigen Einberufung der Nationalversammlung durchgesetzt hat. Aber so erfreulich dieser frühe Termin im Interesse des Friedens und der inneren Neubildung ist, so darf doch nicht übersehen werden, daß er die nichtsozialistischen Parteien vor eine sehr große Aufgabe stellt. Die Sozialdemokratie war schon vor der Revolution vorzüglich organisiert und hat in den letzten Wochen durch das Rätesystem überall ihre Anhänger zusammengefaßt. Die anderen mußten notgedrungen ihre frühere höchst mangelhafte politische Organisation umgestalten, ja vielfach über den Haufen werfen: sie müssen wenigstens versuchen, den Vorsprung, den die sozialdemokratischen Parteien voraus haben, einigermaßen einzuholen, um am 19. Januar ihre Anhänger in geschlossener Reihe aufmarschieren lassen zu können. Um dieses Ziel einigermaßen zu erreichen, dazu muss von der Deutschen Demokratischen Partei jeder Tag ausgenutzt und jede verfügbare Kraft herangeholt werden.
Innerhalb des Kongresses selbst war die Ueberzeugung stark vertreten, daß die eigentliche Aufgabe der Tagung mit der Festlegung der allgemeinen Wahlen erfüllt sei. Aber die radikalen Kräfte wollten nicht mit leeren Händen nach Hause kommen. Deshalb setzten sie es durch, daß sich der letzte Tag noch mit der Vergesellschaftung der Bergwerke unverzüglich begonnen werden soll. Nachdem die Absicht in feierlicher Form verkündet worden ist, wird die Regierung die Pflicht haben, die Einzelheiten zu überlegen. Hoffentlich wird dann wirklich eintreten, was die Vertreter dieses Vorschlags von ihm erwarten, daß nämlich die Bergarbeiter nun auf ihre unerfüllbaren Lohnforderungen verzichten und von allen Feierschichten absehen, damit unserer notleidenden Industrie wenigstens Kohle und Erz in genügender Menge zugeführt werden kann.
Erfreulich ist, daß die Regierung der Volksbeauftragten durch den Kongreß in ihrer Machtvollkommenheit gestärkt worden ist. Der Groß-Berliner Vollzugsrat hat aufgehört, die Aufsichtsbehörde für die Regierung zu sein. An seine Stelle ist ein aus lauter Mehrheitssozialisten gewählter Zentralrat getreten, der über die Regierung noch eine parlamentarische Kontrolle ausüben, aber nicht selbst Gesetze erlassen darf. Vielmehr ist, mit dieser Einschränkung, auch die gesetzgebende Gewalt an die Volksbeauftragten übergegangen. Das eine solche Machtvollkommenheit große Gefahren in sich birgt, kann keinen Augenblick verkannt werden. Der neugeschaffene Zustand ist auch nur als ein kurzes Provisorium erträglich. Aber mit diesem Vorbehalt ist er allerdings den bisherigen revolutionären Einrichtungen vorzuziehen. Er ermöglicht ein allmähliches Abbauen des Rätesystems und damit den Uebergang zu den demokratischen Formen der künftigen Volksrepublik. So ist im ganzen der Verlauf des Delegiertenkongresses ergebnisreicher gewesen, als man bisweilen besorgen mußte. Die volle Anspannung aller nationalen Kräfte kann nun auf die Wahlen vom 19. Januar konzentriert werden. Sie werden aber die künftige Gestaltung Deutschlands entscheiden.
Quelle:
Das Berliner Tageblatt vom 21. Dezember 1918, 47:651 (1918), Morgenausgabe, S. 4.
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1918-11-21/27646518/
Bild:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/da/Bundesarchiv_Bild_146-1972-030-63%2C_Reichskongre%C3%9F_der_Arbeiter-_und_Soldatenr%C3%A4te%2C_Berlin.jpg