Harry Graf Kessler: Eine Zugfahrt aus Warschau - nach Warschau
Kessler wird von den polnischen Behörden gebeten aus Warschau abzureisen, und zwar unverzüglich. Er vermutet die Entente hinter dem Vorgang, ihn samt seiner Gesandtschaft auszuweisen und berichtet von den Vorgängen, die sich nach der Aufforderung abspielten sowie einer Zugfahrt. Diese ging jedoch nicht zu Ende und Kessler, eben aus Warschau abgereist, führte es am Ende wieder nach Warschau zurück. Dieser Abbruch der diplomatischen Beziehungen war ein schwerer Rückschlag für die deutschen Friedensbemühungen. Wenige Tage später sollte der Posener Aufstand und die damit einhergehende gewaltsame Abtrennung deutschen Gebietes beginnen.
Volltext:
15 Dezember 1918. Sonntag. Warschau
Heute sind die Beziehungen endgültig abgebrochen worden. Morgens um 10 kamen Bader und Morawski zu mir und überreichten mir ein, diesmal von Wassiliewski unterschriebenes, Schriftstück, das auf eine Menge von mehr oder weniger faulen Gründen gestützt die Beziehungen abbricht, genau gesagt „unterbricht“, und mich ersucht, „immédiatement“ mit der Gesandtschaft abzureisen. Bader sagte, Nachrichten, die sie „aus dem Westen“ hätten, (soll wohl heissen Posen) und der Mangel eines Resultats bei den gestrigen Verhandlungen hätten den Entschluss hervorgebracht. Ich protestierte energisch gegen den zweiten Grund, da volle Übereinstimmung erzielt war und Iodko mir Abends, beim Aufschub der Unterzeichnung, keinen einzigen Punkt gesagt hat, an dem er noch sachlich Etwas auszusetzen hätte. Den Aufschub begründete Iodko lediglich mit dem Wunsche, die Formulierung der Verträge noch nachzuprüfen. Hierauf wusste Bader Nichts zu erwidern. In Wirklichkeit ist natürlich ein energischer Druck der Entente erfolgt, die die Kaltstellung von Filipowicz sich nicht gefallen lässt, und als Sühne die sofortige Entfernung der Gesandtschaft gefordert hat. Gleichzeitig mit der Notifizierung des Abbruchs wurden mir zwei Schriftstücke überreicht, in denen in einem höchst erregten und arroganten Ton gegen angebliche Greuel unserer Truppen im Buggebiet protestiert wird; offenbar für ein Weissbuch bestimmte Machwerke. Uns trifft an diesem Abbruch keine Schuld; wir haben uns hier in Warschau Unerhörtes gefallen lassen, ohne jemals die Konzilianz und die Versuche, auszugleichen, aufzugeben. Auch habe ich auf Oberost und Regierung immer den möglichst starken Druck ausgeübt, damit sie den Polen entgegenkämen. Pilsudski und die polnische Regierung wollten offenbar den Bruch nicht. Aber die N.D.'s gestützt auf Frankreich haben ihn erzwungen. Frankreich zeigt sich auch hier unersättlich in Rachgier und Ehrgeiz; sein dämonischer Hass ist durch unsere Niederlage wie es scheint, in keiner Weise gedämpft worden. Auch künftig wird es gegen uns hassen und kämpfen, bis es selber, oder wir zugrundegehen. Nachmittags melden Extrablätter den Abbruch, oder die „Unterbrechung“ der Beziehungen mit Deutschland. Das Publikum kauft sie ziemlich eifrig. Gülpen, den ich zu Pilsudski wegen Freilassung der festgesetzten Polizeikommissare schickte, berichtet, Pilsudski sei sehr freundlich gewesen, habe aber gesagt, jetzt könne er zum ersten Male wieder frei atmen; so sei er von rechts und links bedrängt worden. Den ganzen Tag kamen Deutsche, die sich Ausweise zur Abreise mit der Gesandtschaft holten. Um 5 besuchte mich der Schweizer Konsul Wettler, dem ich den Schutz der deutschen Interessen übertragen will. Er übernahm ihn provisorisch, sagte aber, er müsse unter den veränderten Umständen bei seiner Regierung anfragen, ehe er ihn endgültig übernehme. Ich fuhr dann zu Korff, dessen Frau, eine Polin, eisig war und nach einer Minute das Zimmer verliess. Korff selbst bleibt in Warschau, glaubt nicht an Gefahr oder Unruhen. Gegessen dann im Europejski im grossen Saal, wo im Nachbarsaal gleichzeitig ein grosser Rout polnischer Soldaten und Damen vor sich gieng; Musik, Jugend, Begeisterung, eine Stimmung wie im Manöver. Um 10 meldete sich bei mir als Begleitungsoffizier ein junger polnischer Leutnant, Leutnant Bednarz, der bis zur Grenze mitfährt, gleich nachher ein zweiter Offizier. Dann ein Automobiloffizier mit einem Personen- und einem Last Auto. Vor der Tür patrouillierte Miliz. Der Bahnhof militärisch besetzt. Gülpen hat von einem befreundeten Legions Offizier eine Warnung erhalten, „man befürchte den Anschlag irgendeines Verrückten.“ Bednarz drängte uns schnell durch die Menge durch, die neugierig, aber ruhig war. Am Bahnsteig stand der Extrazug vorgefahren mit meinem Salonwagen, einem Personen- und einem Gepäckwagen. Wir nehmen etwa 60 Personen mit; die meisten Deutschen sind in Warschau geblieben. Um halb 12 kam ein Vertreter des Ministeriums des Auswärtigen und richtete mir einen Abschiedsgruss vom Minister aus. Gegen Filippovicz soll ein Disziplinarverfahren eingeleitet sein. Auf dem Bahnsteig dauerte das Durcheinander von Gepäck, Personal, patrouillierenden Soldaten etwa eine Stunde. Ein grosser Teil der Akten kommt, da Kisten heute nicht zu haben waren, unverpackt mit; ganze Schübe, die in den Gepäckwagen hineingeworfen werden. Sonst waren die Vorkehrungen, die die Polen getroffen hatten, mustergültig. Um 12 fuhren wir aus dem Bahnhof. Die beiden polnischen Leutnants, von denen der eine, Bednarz, gut Deutsch spricht und ein Mitkämpfer vom Styr ist, (mit 17 Jahren Legionär, jetzt 21, seit 4 Jahren im Krieg,) hatte ich in meinen Salon eingeladen. In freundschaftlichster Stimmung sassen sie mit uns um unseren Tisch. Nichts von der Möglichkeit, dass wir morgen Feinde sein könnten, trübte das Gefühl. Gegen halb 2 hielten wir, und es hiess, wir führen nach Warschau zurück; die Strecke nach Alexandrowo sei nicht frei, wir müssten über Mlawa und Ostpreussen fahren. Um 2 waren wir wieder im Vorbahnhof Warschau und fuhren langsam um die Stadt herum in die andre Strecke ein.
Quelle:
Riederer, Günter, Hilse, Christoph (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Sechster Band 1916-1918, Stuttgart 2004, S. 692 - 694.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Warschau#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-R42025,_Warschau,_Einmarsch_deutscher_Kavallerie.jpg