Harry Graf Kessler: Können Polen und Juden in einem Staate leben?
Kessler berichtet von den Truppenbewegungen um Brest-Litowsk und seiner Korrespondenz mit Pilsudski. Noch immer gibt es Aufbegehren gegen die Vertreter des deutschen Militärs, aber man mache Fortschritte bei der Rückführung der Truppen ins Reich. Zudem führte Kessler eine bemerkenswerte Unterhaltung mit einem polnischen Unteroffizier über die polnischen Ausschreitungen gegen Juden. Der Mann überlege deshalb nach Deutschland auszuwandern, obwohl er zuvor auf Seiten der Polnischen Legionen gekämpft habe. Wie viele Menschen genau bei den Pogromen, die sich 1918 insbesondere im zwischen Polen und der kurzlebigen Westukraine umkämpften Gebiet ereigneten, umkamen ist unklar. Damalige Zeitungsberichte sprechen von über tausend Toten und mehreren zehntausend Obdachlosen.
Volltext:
2 Dezember 1918. Montag. Warschau.
Endlich heute durch den Feldjäger Weisungen aus Berlin erhalten. Die Oberste Heeresleitung einverstanden mit der Räumung der Bugetappe westlich des Bug bis auf einen Brückenkopf bei Brest-Litowsk; ferner mit dem Einrücken polnischer Truppen in Teile des Ostgebiets, ehe diese von uns geräumt werden, um das Nachrücken der Bolshewiks zu verhindern. Allerdings scheint es einen Kampf gekostet zu haben; denn die Einwilligung der O.H.L. ist vom 27ten, und am 26ten erklärt Oberost in einem gleichzeitig eingetroffenen Schreiben die Räumung der Bugetappe noch für ausgeschlossen. An Pilsudski Abends geschrieben und ihm das Einverständnis meiner Regierung mit der Räumung der westlichen Bugetappe mitgeteilt; sofortige Verhandlungen über die Modalitäten angeregt. Damit haben wir der Pilsudskischen Regierung einen Erfolg verschafft, der sie zweifellos festigen wird. Die gestrigen Versammlungen haben ebenfalls ein Fiasco der N.D's gebracht. -- Fitzi Schoeler angekommen; d. h. seit gestern früh ist er hier, hat uns gestern den ganzen Tag gesucht, unterwegs zwischen Berlin u Thorn sein ganzes Gepäck verloren, liegt mit Fieber zu Bett, klagt über eine entsetzliche Reise. In Berlin hat er in den letzten Tagen gesehen, wie einem alten General in Charlottenburg am Knie' die Achselstücke heruntergerissen wurden, und wie am Potsdamer Platz ein blutjunger Leutnant Burschen, die ihm die Achselstücke nehmen wollten, einen Browning vorhielt: „Zehn Schritt vom Leibe, oder ich schiesse.“ Von Frankfurt bis Berlin ist er zwei Tage Dritter Klasse gefahren mit Truppen aus der Etappe; die Demoralisation sei furchtbar, namentlich unter den Offizieren, die einfach fortgelaufen sind. Die Truppen aus der wirklichen Front dagegen noch immer glänzend. Den Kaiser bezeichnet Schoeler als Deserteur. Diese Erbitterung gegen den Kaiser gerade in konservativen Kreisen geht auch aus einem Artikel des roten „Tag" hervor. - Sehr niedergedrückt hat mich die von ihm mitgebrachte Nachricht, dass Romberg aus Bern abberufen und durch Conrad Haussmann ersetzt ist. Mein Verzicht auf den Berner Posten hat also Romberg Nichts genützt. Ich hoffe noch, dass Romberg an Bussches Stelle kommt. - Von der Gesandtschaftswache liess sich Vormittags ein Unteroffizier Werthmann bei mir melden. Sprach fliessend Deutsch, mit polnischem Akzent, sagte mir, dass er Jude sei, aber Legionär aus moralischem Zwang, weil er als Student am Polytechnikum seine Kameraden nicht im Stiche lassen könne. Zionist, empört über die Greuel, die die Polen gegen die Juden begiengen, schlimmer als im 12 ten Jahrhundert, entschlossen den Staub Polens von den Füssen zu schütteln, sobald Gelegenheit dazu sich biete; nicht notwendig nach Palästina, obwohl dieses das Ideal, aber als Ingenieur nach Deutschland, Frankreich, Amerika. Und doch heute polnischer freiwilliger Legionär. Er meinte, der Zionismus nehme schnell zu in Polen. Polen und Juden könnten in einem Staate nicht zusammenleben. Er schien müde und enttäuscht. -- Abends besuchte mich der alte Graf Milewski. Vor vier Wochen habe er noch seinen Pass ins Belvedere zu seinem alten Freunde Beseler getragen, als er wiederkam, herrschte dort: „ce Bolschéwique de Pilsudski!" Als Edelleute müssten wir zusammenhalten gegen diese in allen Ländern wütende Canaille. – Abends bei Korff mit Theussner und Meyer. Korffs Sympathieen sind, trotzdem er Deutsch ist und Deutsch fühlt, auf Seiten der National Demokraten gegen Pilsudski, weil er Kapitalist ist, und Pilsudski als roter Revolutionär gilt, seitdem er das sozialistische Kabinett gebildet hat.
Quelle:
Riederer, Günter, Hilse, Christoph (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Sechster Band 1916-1918, Stuttgart 2004, S. 677 - 679.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Graf_Kessler#/media/File:Edvard_Munch_-_Portrait_of_Harry_Graf_Kessler,_1906.jpg