Hellmuth von Gerlach über die Pogrommeldungen: "Die Nerven behalten!"
Nachdem die Kunde von Ausschreitungen in Polen die Runde gemacht hatte, bei der vor allem jüdische Bürger*innen Opfer von Gewalt geworden waren und auch eine Synagoge zerstört worden war, mahnte der Unterstaatssekretär Hellmuth von Gerlach im Mitteilungsblatt des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus zur Ruhe. Noch sei überhaupt nicht klar, wie groß das Ausmass der Gewalt eigentlich war und auch die mögliche Parallele zu Deutschland verwirft er. Er verschätzt sich dabei allerdings komplett. Die Szenarien, die er beschreibt - Szenarien, die in Deutschland "ausgeschlossen" seien - lesen sich vielmehr wie ein Augenzeugenbericht aus den 1930er Jahre.
Volltext:
Den Nachrichten aus Polen muss man jetzt ungefähr mit demselben Mißtrauen gegenüberstehen wie denen über Spionage, Goldautos, vergiftete Brunnen usw. zu Beginn des Krieges. Ich erinnere z. B. an die Meldung, polnische Offiziere seien vor Posen erschienen und hätten die Stadt zur Uebergabe aufgefordert. Sie erregte berechtigte Sensation und war doch nichts wie eine Ente.
Schauderhafte Nachrichten über Pogrome kommen aus Galizien. Entsprächen sie auch nur zum Teil den Tatsachen, so müßte die gesamte gesittete Menschheit Sühne und Schutz gegen künftige ähnliche Ausschreitungen fordern. Aber sind jene Nachrichten wirklich authentisch?
Ich war vor einigen Tagen mit anerkannten Führern der Posener Polen zusammen. Die Pogromfrage wurde durchgesprochen. Die Herren erklärten, daß ihr Urteil ebenso scharf sein würde wie das von uns Deutschen, wenn es sich um verbürgte Meldungen handelte. Sie hegten jedoch die stärksten Zweifel daran. Daß in Lemberg eine Anzahl von Juden getötet und eine Reihe jüdischer Gebäude, auch eine Synagoge, zerstört sei, werde wohl zutreffen. Aber sie wiesen darauf hin, daß drei Wochen lang in Lemberg wilde Straßenkämpfe zwischen Polen und Ruthenen getobt hätten. Bei diesen Kämpfen könnten natürlich leider auch eine Menge unbeteiligter Einwohner zu Schaden gekommen sein, so vielleicht auch eine Synagoge. Was sie aufs entschiedenste bestreiten müßten, das sei, daß vom polnischen Militär geflissentlich gegen unbeteiligte Juden gewalttätig vorgegangen sei.
Als die Polen darauf aufmerksam gemacht wurden, daß das Bestreiten nicht genüge, erklärten sie den Vorschlag für durchaus diskutabel, durch die Kommission einer neutralen Macht die Vorgänge in Lemberg untersuchen zu lassen. Ich hoffe, daß dieser Vorschlag ausgeführt wird. Bis zu dem Bericht der Kommission tut man wohl gut, mit seinem Urteil zurückzuhalten.
Die Nachrichten über die angeblichen Vorgänge in Galizien haben bei den reichsdeutschen Juden und insbesondere bei denen Posens eine erhebliche Nervosität erzeugt. Ich muß demgegenüber darauf verweisen, daß nach den Berichten aller zuständigen Stellen in der Provinz Posen irgendwie erhebliche Ausschreitungen nicht vorgekommen sind. In den ersten Revolutionstagen ist es an einigen Orten etwas drunter und drüber gegangen, aber nicht mehr als in anderen Teilen Deutschlands auch. Und inzwischen ist fast überall durch gütliche Verhandlungen die Ordnung völlig wiederhergestellt worden. Jedenfalls sind Leben und Eigentum in der Provinz Posen nicht mehr bedroht gewesen als irgendwo anders, und es besteht begründete Hoffnung, daß es so bleibt, wenn nicht Unbesonnenheit oder Provokationen vorkommen.
Grund zu einer Beunruhigung besteht nach meiner Ueberzeugung für die Juden in Berlin ebensowenig wie für die Posen. Natürlich weiß ich, daß von gewissen Kreisen eine wüste antisemitische Hetze getrieben wird. Es wäre auch leichtfertiger Optimismus, zu leugnen, daß vereinzelte antisemitische Putsche ebenso möglich sind wie vereinzelte Putsche gewisser Regierungsgegner gegen die ihnen besonders verhaßten Stellen. Was ich nur für ausgeschlossen halte, das ist, daß diese Putsche zu einem systematischen Pogrom ausarten könnten. Es solcher Versuch würde scheitern an dem gesunden Sinn der Bevölkerung. Um so sicherer scheitern, als die Massen Berlins im Augenblick stärker denn je unter dem Einfluß des sozialen und demokratischen Gedankens stehen, und die Sozialdemokratie, ebenso wie die bürgerliche Demokratie, ihre Ehre darein setzt, jede konfessionell oder nationalistisch gerichtete Bewegung hintanzuhalten. Daß die sozialistische Regierung mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln dafür eintreten würde, jeden antisemitischen Putschversuch im Keime zu unterdrücken, ist selbstverständlich.
Quelle:
Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, 28:24/25 (1918), S. 117 f.
In: https://periodika.digitale-sammlungen.de/abwehr/Blatt_bsb00000927,00121.html
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hellmut_von_Gerlach#/media/File:Helmut_von_Gerlach.jpg