Martin Buber: "Die Revolution und wir"
Der große jüdische Religionsphilosoph Martin Buber macht sich in der von ihm herausgegebenen Monatsschrift Der Jude Gedanken über den epochalen Charakter der Revolution. Nun endlich sei auch in Deutschland das nationale Element voll zur Durchsetzung gelangt, womit es in Bubers Logik seine grundsätzliche Berechtigung verloren habe. Nun gelte es ähnlich, aber doch deutlich verschieden von Sowjetrussland einen eigenen Weg zum Sozialismus als dem neuen politischen Leitstern zu suchen. Das Judentum, so Buber, werde hierzu einiges an Schöpferkraft beizutragen haben.
Volltext:
Es sind nun mehr als anderthalb Jahre, daß ich an dieser Stelle die russische Revolution gegrüßt habe. Das Gestrüpp, das dem russischen Volk den Weg, seinen Weg versperrte, ist ausgerodet worden; täppische, brutale Hände haben eingegriffen; aber sie werden nicht bewirken können, daß dieses Volk nunmehr den Weg gehe, den sie ihm weisen, statt seines eignen, ihm von seiner Seele zugedachten Wegs zu seiner eignen Art freien Menschentums.
Auf die russische ist nun die deutsche Revolution gefolgt. Sie hat von jener gerade die willkürhaften Formen ihrer vorläufigen Organisation übernommen; sie werden von ihr abfallen, nach schweren Kämpfen, die aber gewiß geordneter, unblutiger, schneller als in Rußland verlaufen werden: weil der architektonische Sinn des deutschen Menschen trotz allem stärker ist als die Meinungsdifferenzen über den Baustil. Dieser Sinn war vom alten System niedergehalten worden; entfesselt, wird er sich von dem Parteiwesen, seinem schlimmsten Widersacher, nicht wieder einfangen lassen. Noch herrscht das Schema und die politische Mechanik; aber morgen muß sich die Überlegenheit organischen Gestaltungstriebs erweisen.
Zwei Kräfte wirken zusammen und werden zusammenwirken, die neue europäische Epochhe zu bereiten: die Unmittelbarkeit des Russen, die zwischen Mensch und Mensch Gemeinschaft stiftet, und der bauende Sinn des Deutschen, der den vorgefundenen Stoff zur Struktur zusammenbildet. Aber eine dritte tritt dazu, befeuernd, zugreifend, durchsetzend: der Verwirklichungsdrang des Juden; er macht ihn zum berufenen Helfer der großen sozialen Umwandlung. Der Jude kann nicht ertragen, daß Gemeinschaft nur als persönliche Beziehung, als Dorfgenossenschaft, Ketzergemeinde, Kameradschaft der „ins Volk Gehenden“ bestehe; er will, daß sie den ganzen Gesellschaftskörper durchglühe und durchseele. Und er kann nicht ertragen, daß der bauende Sinn sich nur am Werk des Einzelnen, an Münstern, Symphonien und Gedankensystemen auswirke; er will, daß er aus dem Leben der Gesamtheit das lebende Denkmal errichte. So treibt es ihn, an der Umwandlung mitführend teilzunehmen; so wird er dort und hier zum Auslöser und Kampfgefährten. Von je hat er an die Erneuerung geglaubt, an den „Neubruch“, an die „neue Erde“, an das „Neuwerden aller Dinge“; von je hat ihn danach verlangt, das Absolute im Empirischen auszuprägen und die „Gerechtigkeit“ wie einen versieglichen Bach sich ergießen zu lassen. Mit der wirkenden Kraft dieses Glaubens und dieses Verlangens stellt er sich in die beginnende Umwälzung ein.
Freilich, er greift oft fehl, er muß immer wieder fehlgreifen: weil er nur allzu leicht verkennt, daß auch die Umwälzung sich jeweilig innerhalb des Lebens eines Volkstums aus dessen Geist und nach dessen Gesetzen vollzieht, daß auch die Revolution so zuinnerst an eine Tradition anknüpft. Er wird erst dann nicht mehr fehlgreifen, wenn er seine Wahrheit auf eignem Boden und mit eignen Volkstum verwirklicht. Dann erst werden der tiefe Zusammenhang seines Wesens mit der Aufgabe des Zeitalters und seine Berufung zur neuen Menschheit den Augen der Welt aufleuchten. Aber heute schon, inmitten der Irrungen, bestehen sie und wirken. Auf ihrem Grunde stehend, nicht um irgendwelcher uns zugute kommenden Nebenprodukt willen, nicht als Nutznießer, sondern als Mitkämpfer und Mitträger grüßen wir die Revolution.
Zwei groß Ereignisse sind – ein Ergebnis des abendländischen Kriegs – in dem Augenblick, den wir durchleben, zur Reife gediehen: die soziale Revolutionierung des östlichen und mittleren Europas und die Verselbstständigung seiner Nationalitäten. Wie bald und wie weit beide um sich greifen werden, ist noch nicht wahrnehmbar; entscheidendes Gewicht haben sie schon in ihrer gegenwärtigen Begrenzung. Es ist nun für die rechte Erkenntnis wesentlich zu sehen, daß das zweite dieser Ereignisse das Ende einer Ideologie, das erste die Umbildungg einer Ideologie einschließt.
Die kleinen Nationen erhalten heute staatliche Existenz, die großen staatliche Einheit. Damit ist der Nationalismus als Idee erfüllt. Als politisches Element wird er noch lange, vorwiegend in den für die nächsten Jahrzehnte zu erwartenden Grenzstreitigkeiten, fortleben, als geistiges Element nicht. Die Völker werden in ihre Rechte eingesetzt, sie brauchen sie nicht mehr zu begründen. Sie können noch allerlei einzelne Forderungen anmelden und verteidigen; die allgemeine hat das Schicksal ihnen bewilligt und damit ausgelöscht. Jede Nation wird nun zu erweisen haben, was sie zu leisten vermag; es zu verkünden ist nicht mehr an der Zeit. Was fortan zwischen Rhein und Wolga an nationalistischer Gesinnung hervortritt, kann nur noch anwenderisch, nicht schöpferisch sein.
Anders verhält es sich mit der Revolution. Wer Augen hat zu sehen, sieht, daß sie keine Vollendung, sondern ein Anfang ist. Auf den Flächen des Staatslebens wird Schutt hinweggeräumt; unermeßlicher lagert noch in den Tiefen des Gesellschaftslebens. Was jetzt an gesetzlichen Umordnungen erfolgt, hat den Charakter von Notstandsaktionen; es wird das innere Gefüge des menschlichen Zusammenlebens nicht umwandeln. Dieses kann überhaupt nicht durch dekretierte oder beschlossene Institutionen, sondern nur durch eine von innen aufkeimende, allmählich sich ausbreitende Verjüngung des Zellengewebes, durch die stete Bildung und Aneinandergliederung neuer echter kräftiger Gemeinschaftzellen – echter Genossenschaften, echter Gemeinden – , durch ein Neuwerden und Echtwerden der Beziehungen von Mensch zu Mensch, von Gruppe zu Gruppe und so auch von Volk zu Volk erneuert werden. Diesen Prozeß erleichtert die Revolution, ihre Werke werden ihn befördern, aber mehr vermag sie für ihn nicht. Und so findet das Ideal, dessen Furcht die Revolution ist, in den Institutionen, die sie hervorbringt, seine Grenze – aber nicht seinen Abschluß; denn die Erkenntnis, daß diese Institutionen nicht eine Vollendung, sondern einen Anfang bedeuten, und daß das Wesentliche ein Künftiges, ein jetzt erst wahrhaft zu erschauendes Ziel ist, wird das Ideal umbilden. Ein neuer Sozialismus, der den alten fortsetzt und umsetzt, bereitet sich in den schöpferischen Geistern des Zeitalters – nicht zuletzt in den jüdischen. Vielleicht beginnt jetzt erst wahrhaft die schöpferische Periode des sozialistischen Ideals.
Auch das jüdische Volk soll heute in seine Rechte eingesetzt werden, auch es soll seine selbstständige Existenz auf eigner Erde wiedererlangen; und auch seinen Massenansiedlungen in der Diaspora muß angemessene Selbstverwaltung zuteil werden. Es wird alsdann seine nationale Idee nicht mehr zu begründen und kundzugeben, sondern zu leben haben. Aber welcher Art und welcher Höhe dieses sein Leben sein wird, das hängt zuallererst davon ab, welchen Anteil es, ob es nicht hinnehmenden und ausführenden bloß, sondern ausgestaltenden und verwirklichenden Anteil an jenem anderen Ideal nehmen wird, das heute nicht wie das nationalistische sich erfüllt und vollendet, sondern sich verwandelt: ob es in Palästina der Welt die Tat darbringen wird, deren nur das Judentum, und nur das neue Judentum fähig ist – seinen besonderen Beitrag zum Werk der Menschheits-Revolution, zur Wiedergeburt der Gesellschaft aus dem Geist der Gemeinschaft.
„Denn der Äon eilt mit Macht zu Ende.“
Quelle:
Der Jude, Eine Monatsschrift, Dritter Jahrgang 1918 / 1919, Heft 8/9, S. 345ff.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Buber#/media/File:Martin_Buber_portrait.jpg