Richard Müller eröffnet den Reichsrätekongreß im Gedenken an die Toten der Revolution
Als Vorsitzender des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte eröffnete Richard Müller (USPD) die erste Sitzung des Reichsrätekongresses. Die Zusammensetzung dieses "Revolutionsparlament" war zwar nicht das Ergebnis von reichsweiten, einheitlich durchgeführten Wahlen nach den geltenden demokratischen Wahlgrundsätzen, dennoch beanspruchte der Kongress als Vertretung der A&S-Räte Deutschlands parlamentarische Funktionen. Somit stand der Kongress in direkter Konkurrenz zur späteren Nationalversammlung. Müller hatte wenige Tage zuvor sogar verkündet, dass er alles tun werde, um den Zusammentritt der Nationalversammlung zu verhindern, sodass diese höchstens "über seiner Leiche" zusammentreten werde. Hieraus entwickelte sich sein Spitzname "Leichen-Müller". Da die MSPD jedoch eine klare Mehrheit im Kongress hielt, wurden der Nationalversammlung von dieser Seite keine Hindernisse in den Weg gestellt. Eine der ersten Handlungen des Kongresses war denn auch die Abwahl Müllers als Vorsitzenden.
Volltext:
1. Sitzung, Montag, den 16. Dezember 1918, vormittags.
Eröffnung des Kongresses.
Die Delegierten der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands traten im Sitzungssaale des [ehemaligen preußischen] Abgeordnetenhauses zu Ihrer Tagung zusammen. Die Präsidial- und Redner-Tribünen waren mit rotem Tuch ausgeschlagen. An den Wänden hingen riesige Kränze aus dunkelgrünem Tannenlaub mit roten Schleifen und goldenen Borten. Auf der Zuschauertribüne hatte eine Anzahl Photographen ihre Apparate aufgebaut. Bereits vor 10 Uhr war der Saal bis auf den letzten Platz besetzt. Man sah eine Reihe bekannter früherer Reichstagsmitglieder und Landtagsabgeordneter. Die Soldaten SAßen verteilt. Als erste Parlamentarierinnen erblickte man zwei Frauen. Auf der Minister-Empore hatten die 6 Volksbeauftragten und die Mitglieder des Berliner Vollzugsrates Platz genommen.
Eröffnungsansprache.
Richard Müller, Vorsitzender des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte eröffnet die Sitzung um 10 1/2 Uhr mit folgender Ansprache.
Geehrte Freunde, Genossen, verehrte Anwesende! Im Auftrag des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte begrüße ich Sie und heiße Sie herzlich willkommen, willkommen zu ernster, verantwortungsvoller Arbeit. Hier in diesem Saale, hier an dieser Stätte, wo ehemals die stärksten Stützen der alten, schuldbeladenen, gestürzten Regierungsgewalt zusammentraten, treten heute die Vertreter der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands zusammen, um das Fundament der deutschen sozialistischen Republik zu legen; hier in diesem Saale, wo ehemals die brutalsten Herrenmenschen, die preußischen Kraut- und Schlotjunker versuchten - und leider auch oft erreichten - , das deutsche Volk in Fesseln zu legen, hier an dieser Stätte ehemaliger schärfster Reaktion sollen Sie die Errungenschaften der Revolution sichern, die von den Arbeitern und Soldaten erobertet politische Macht für alle Zeiten fest verankern und dem deutschen werktätigen Volke den Weg zur Freiheit, zum Glück und Wohlergehen zeigen.
Darum heiße ich Sie nochmals herzlich willkommen zu dieser großen, erhabenen, menschheitsbefreienden Arbeit.
Geehrte Freunde und Genossen! Ihnen ist eine große und schwere Aufgabe gestellt. In Ihren Händen liegt die Zukunft des deutschen Volkes. Ich weiß, ein jeder von Ihnen will das Beste, ein jeder von Ihnen ist beseelt von dem Gedanken, das deutsche Volk aus all dem Elend, aus all der Not herauszuführen, in die eine verbrecherische Regierung sie gestürzt hat; wohl beseelt uns alle dieser Gedanke, wir wollen alle an diesem großen Werke mitarbeiten. Aber ich fürchte, wir sind uns nicht alle einig über den Weg, der am schnellsten und sichersten zu diesem Ziele führt; ich fürchte, der Kampf der Geister, der heute und die nächsten Tage in diesem Saale toben wird, wird hart und scharf sein. Aber, geehrte Freunde und Genossen, wenn wir uns alle von dem Gedanken leiten lassen, daß ein jeder, die Errungenschaften der Revolution sichern helfen will - mögen auch die Meinungen über den Weg, der zu diesem Ziele führt, sachlich verschieden sein - , wenn jeder bestrebt ist, alles Persönliche auszuschalten, nur der Sache zu dienen, dann, glaube ich werden wir fruchtbare Arbeit leisten und werden wir dem Wohle des Volkes dienen.
Das werktätige Volk Deutschlands, Hand- und Kopfarbeiter gemeinsam mit den Soldaten, haben während des langen Krieges am schwersten, unsagbar schwer gelitten. Das gestürzte kapitalistische, militaristische Regierungssystem ermöglichte es einer dünnen Oberschicht, ein Siebzigmillionenvolk politisch und wirtschaftlich zu knechten und für seine Zwecke abzuschlachten. Aber so stark und so fest dieses fluchwürdige System uns allen erschien, so morsch und faul war es, daß es nur eines Anstoßes bedurfte, um zusammenzubrechen. Die Arbeiter und Soldaten waren es, die dieses verbrecherische Regime beseitigten. Die Arbeiter und Soldaten sind es, die heute die politische Macht in den Händen halten. Überall haben sich Arbeiter- und Soldatenräte gebildet als Träger der Revolution, als Vollstrecker des Willens der Arbeiter und Soldaten, und nun ist es in Ihre Hand gelegt, ob auch weiter die Arbeiter und Soldaten diese politische Macht in der Hand halten sollen.
Verehrte Anwesende, schon wenige Tage nach der Revolution begann die bürgerliche Presse den Kampf gegen die Arbeiter- und Soldatenräte.
Dieser Kampf ist bis zum heutigen Tage geführt worden, er ist in einer Form geführt worden, die auf das allerschärfste zurückgewiesen werden muß. Man hat sich nicht mit sachlicher Bekämpfung begnügt, man hat Verleumdung über Verleumdung auf die Arbeiter- und Soldatenräte und ihre Vertreter gehäuft. Ich erwähne das nur, um Ihnen zu zeigen, mit welchen Blicken von außen unsere Taten betrachtet, welche Erwartungen von jener Seite dem Ausgang dieser Tage entgegengebracht werden. Aber niemand von uns wird sich von dieser Presse beeinflussen lassen. Wir werden den Weg beschreiten und den Weg weiter gehen, den uns die Revolution gezeigt hat. Das werktätige Volk, Hand- und Kopfarbeiter ganz Deutschlands, richten heute ihre Blicke auf diese Versammlung, das werktätige Volk Deutschlands, das in ein unermessliches Unglück gestürzt worden ist, erwartet, von dieser Versammlung den Weg gewiesen zu erhalten, der es aus diesem Unglück herausführen kann. Gleich dem Ertrinkenden suche sie Rettung, und hier, werte Freunde und Genossen, hier ist der Platz, hier ist die Stätte. Sie sind diejenigen, die den Weg zeigen sollen, Sie sind es, die die Trümmer des zusammengestürzten Regimes aufzuräumen haben, ein Fundament zu legen haben, auf dem ein neues Gebäude ersteht. Ihre Aufgabe ist es, die Grundlagen für die Deutsche sozialistische Republik zu legen, für ein Staatswesen, das keine Herrscher, noch Beherrschten, das keine Ausbeuter, noch Ausgebeuteten kennt, sondern nur freie, gleiche Brüder.
Genossen, bevor wir an unsere Arbeit gehen, an diese große, schöne und schwere Arbeit, wollen wir aber auch aller jener unglücklichen Menschen gedenken, die als Opfer des fluchbeladenen, gestürzten Systems gefallen sind, (die Versammlung erhebt sich) deren Gebeine draußen in kühler Erde ruhen. Wir wollen aber auch jener gefallenen Freiheitskämpfer gedenken, die im Kampfe für die sozialistische Republik gefallen sind. Das gesamte arbeitende Volk dankt diesen Helden, unvergessen werden sie fortleben als die großen Toten der sozialistischen Republik, mit goldenen Lettern werde ihre Namen eingegraben sein in dem Buch der Geschichte. - Sie haben sich von Ihren Sitzen zu Ehren der Gefallenen erhoben, ich konstatiere das und danke Ihnen.
Quelle:
Dieter Braeg / Ralf Hoffrogge (Hg.), Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, 16.-20. Dezember 1918 Berlin, Stenographische Berichte, Berlin 2018, S. 33 - 35.
Bild:
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