Victor Klemperer: Geldsorgen machen das Leben zur Hölle
Victor Klemperer stand im Dezember 1918, obwohl habilitiert in Sprachwissenschaften, finanziell auf Messers Schneide. Die später erfolgreiche Suche nach einer Professorenstelle hatte noch keine Früchte getragen und so musste sich Klemperer mit publizistischen Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Hier schreibt er von seinen erheblichen Geldsorgen und der Hilfe eines Freundes, Jule Sebba, der ihm Geld leiht. Klemperer wird das Angebot annehmen und fühlt sich hundeelend.
Volltext:
Donnerstag Nachm 6 Uhr. Leipzig 19. XII 18.
Astrée nach Möglichkeit. – Sehr starke Erkältung. - Sehr starke Depression der Gelddinge halber, u. weil ich nicht mehr an meine geistige Produktivität glaube. Jule Sebba, den ich vor einigen Wochen ziemlich unverhüllt anbettelte, bietet mir heute in einem rührend freundlichen Brief 3000 M. an. Es seien die Gelder, die ich ihm in Hinblick auf Gent zurückgegeben, u. »cessante causa cessat effectus«, auch sei es ihm steuerlich sehr willkommen, wenn er das Geld an mich abschiebe ... Ich werde es wohl nehmen, aber mit schwerstem Herzen. Die romantische Lüge von früher – »Du gibst es bald aus Eigenem zurück« u. »Du leistest Bedeutendes«, »Du darfst als Auserwählter« – ist ja so gänzlich hin; ich fühle mich gescheitert.
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Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 36.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer#/media/File:Victor_Klemperer_2.JPG