Wahlprogramm der USPD: „Wir hielten das rote Banner unbefleckt!“
Auch die USPD, trotz einzelner Vorbehalte, formiert sich für die Wahl zur Nationalversammlung. In ihrem Wahlkampfaufruf fordert die Parteileitung ein tätiges Mitwirken aller Genossinnen und Genossen. Nur so könnten die Errungenschaften der Revolution verteidigt und die Vollendung der sozialistischen Republik verwirklicht werden. Das Grundproblem: die USPD wähnt sich in einem Kampfe gegen alle anderen Parteien einschließlich des Koalitionspartners, der MSPD. Kompromissbereitschaft für künftige parlamentarische Mehrheitsbildungen ist somit nicht zu erkennen.
Volltext:
Parteigenossen und Parteigenossinnen!
Die Nationalversammlung ist vorbehaltlich der Zustimmung der Reichsversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte, die am 16. Dezember d.J. zusammentritt, auf den 16. Februar einberufen worden. Die endgültige Entscheidung ist also in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte gelegt worden. Dieses geschah auf Betreiben unserer Genossen im Rat der Volksbeauftragten.
Wir müssen uns jedoch schon jetzt politisch so einrichten, als ob der Termin bereits feststünde.
Stolz geht die Partei in den Wahlkampf. Unbefleckt hat sie das rote Banner erhalten. Als alle anderen Parteien vor dem Imperialismus kapitulierten, als sie zu Mitschuldigen des größten Verbrechens der Geschichte wurde oder sich feige duckten vor den entfesselten Geistern des Nationalismus und der Beutegier, da stand sie fest und unerschütterlich zu den Prinzipien des Sozialismus und der internationalen Solidarität. Als die Politik der alten Sozialdemokratie immer weiter abwich von den Pflichten, deren Erfüllung das Klasseninteresse des Proletariats gebieterisch forderte, als uns durch Gewalt und List das Wirken für den Sozialismus unmöglich gemacht wurde, da haben wir die alte Partei, an deren Größe wir unablässig mitgearbeitet hatten, verlassen. Höher als die Partei stand uns der Sozialismus, die Sache des deutschen und des internationalen Proletariats.
Seither haben wir einen mühevollen, unablässigen und furchtlosen Kampf geführt, damit die Macht des deutschen Proletariats nicht in den Dienst der Verlängerung des unseligen Krieges gestellt werde, haben alles darangesetzt, daß die Arbeiterklasse aus einem Instrument des Krieges zu dem Bringer des Friedens werde.
Unsere Arbeit hatte Erfolg. Der Kampf gegen den Krieg war Arbeit für die Revolution. Bekämpft von allen Parteien, nicht zuletzt von den Rechtssozialisten, war die Unabhängige Sozialdemokratie die Trägerin des revolutionären Gedankens, den die Arbeiter- und Soldatenräte dann in kühner Tat verwirklicht haben.
Der 9. November hat unser Werk gekrönt. Deutschland ist eine sozialistische Republik. Sie gilt es zu sichern. Ihrem Ausbau gilt nun unsere Arbeit.
Noch sind die Mächte des Alten nicht völlig gebrochen. Die Konterrevolution erhebt ihr Haupt und versucht ihre ersten Schritte. Ihr gilt der erste Kampf. Die Träger des gestürzten Systems müssen sofort beseitigt werden, alle Mittel ergriffen werden, um die Errungenschaften der Revolution zu sichern und zur Vollendung der sozialistischen Republik zu steigern.
In unerschütterlichem Festhalten an unseren sozialistischen Prinzipien, deren Richtigkeit der Verlauf der historischen Entwicklung immer von neuem bestätigt, fordern wir den Neuaufbau der Gesellschaft.
Wir fordern den unverzüglichen Beginn der Sozialisierung, damit die kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse gebrochen, die Produktion auf das höchste Maß gesteigert, die Verteilung zugunsten der Gesamtheit der Volksgenossen umgestaltet werde.
Wir treten ein für die möglichst schnelle Umwandlung des kapitalistischen Klassenstaates in die sozialistische Gesellschaft, auf daß das Reich der Freiheit an Stelle des Reiches der Knechtschaft und der Ausbeutung errichtet werde.
Wir dürfen mit den Vorbereitungen keinen Tag zögern.
Eine großes Stück Aufklärungsarbeit ist zu verrichten. Die Frauen nehmen zum erstenmal an einer politischen Wahl von größter Bedeutung teil, und sie bilden die Mehrheit der Wähler.
Die Soldaten sind zu Millionen dem politischen Leben jahrelang entrückt gewesen.
In der kurzen Spanne Zeit bis zum Wahltag gilt es, mit aller Kraft die Wähler über die wichtigsten politischen Tatsachen, über die Grundsätze des Sozialismus zu unterrichten. Kein Tag darf ungenützt verstreichen.
Ihr müßt aber auch schon jetzt mit der Organisationsarbeit beginnen. Das Wahlgesetz hat die Wahlbezirke scharf umgrenzt und die Zahl der Kandidaten für jeden Wahlbezirk nach einem gleichen Maßstab festgesetzt.
Die Auswahl der Kandidaten hat im Einvernehmen aller unserer Parteiorganisationen der Wahlbezirke zu erfolgen. In jedem Wahlbezirk sind besondere und vollständige Listen der USPD aufzustellen. Besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, daß Arbeiter, die das Vertrauen der Mitarbeiter in den Betrieben genießen, als Kandidaten aufgestellt werden.
Es handelt sich nicht um die Wahl zu einem Jahre hindurch tagenden Parlament. Unsere Parteigenossen, die in Fabriken, Kontoren, Geschäften, Werkstätten und die auf dem Lande tätigen Arbeiter und Angestellten, sind deshalb durch nichts gehindert, als Vertreter in die Nationalversammlung einzutreten.
Die Frauen, die bis jetzt Schulter an Schulter mit dem Manne für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse gewirkt haben, sind in gleicher Weise wie die Männer zur Vertretung des sozialistischen Proletariats in die Nationalversammlung zu entsenden. Der Tüchtigste ist zu wählen, ohne Rücksicht, ob Mann oder Frau.
Der Streit, wann die Konstituante zusammentreten soll, ist jetzt ein müßiger. Jetzt gilt es, die politische Situation auszunutzen, im Interesse der Arbeiterklasse zum Siege der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei.
Auf, Genossen und Genossinnen, ans Werk! Es geht um die Sicherung und den Aufbau der Sozialistischen Republik! Es geht ums Ganze!
Die Parteileitung
der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Quelle:
Ursachen und Folgen vom deutschen Zusammenbruch 1918 bis 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, Bd. 3, Der Weg in die Weimarer Republik, Hg. und bear. Herbert Michaelis, Ernst Schraepler, Günter Scheel, Berlin 1959, S. 158ff. [im Folgenden: Ursachen und Folgen, Bd. 3].
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Unabh%C3%A4ngige_Sozialdemokratische_Partei_Deutschlands#/media/File:Haase_1905.jpg