DVP: Demokratische Evolution statt undemokratischer Revolution?
Für die DVP entwickelte Jakob Riesser eine eigene Interpretation der Novemberrevolution und widersprach damit Reichspräsident Ebert, der wenige Tage zuvor die Revolution in seiner Eröffnungsrede als Leistung des gesamten Volkes dargestellt hatte. Statt der durch die Revolution errichteten sozialdemokratischen "Klassendiktatur" hätte die Parlamentarisierung über eine friedliche Evolution des Reiches kommen müssen. Die damals mobilisierten Massen seien ohnehin nur aus Gier nach Lohnerhöhungen auf die Straßen gegangen. Riesser erscheint unversöhnlich und doch verlas er im Namen seiner Fraktion eine Erklärung, die nichts weniger als ein Bekenntnis der DVP zur Republik als Staatsform und eine (teilweise) Abkehr von der Monarchie beinhaltete.
Volltext:
[...] Die Revolution vom 9. November 1918 traf die Kreise, die man unter dem etwas unklaren, aber doch von der Sozialdemokratie als technischer Begriff eingebürgerten Worte "Bürgertum" zusammenfaßt, im Zeichen fast völligen Zusammenbruchs. Die deutschen Fluren waren im großen und ganzen frei geblieben vom Feinde; aber die Seelen waren verwüstet durch den mehr als vierjährigen Krieg, durch die demoralisierende und entnervende Zwangswirtschaft, die Not in Lebensmitteln, Kohlen und Rohstoffen und die mit elementarer Gewalt wie ein Meteor aus heiterem Himmel herabgestürzte Notwendigkeit des Waffenstillstands. Alles das war für das Bürgertum genügent um wie hypnotisiert dieser Revolution gegenüberzustehen. Das deutsche Volk aber durfte sich damals auch im Rückblick auf den verlorenen Krieg nach unserer Überzeugung sagen, daß es diesen Krieg wder gewollt, noch herausgefordert, noch verschuldet hat.
Wenn der vom Vertrauen des bayerischen Volks nicht übermäßig belästigte bayerische Ministerpräsident
(Heiterkeit bei der Deutschen Volkspartei)
unsere Schuld am Weltkriege durch einseitige Veröffentlichung aus nicht maßgebenden Tagen hat erweisen wollen - wir tragen ja vielfach den Feinden selbst die Scheite zu, aus denen sie uns dann den Scheiterhaufen bereiten -,
(sehr wahr! bei der Deutschen Volkspartei)
dann mag demgegenüber lediglich auf das alte Wort Macchiavellis verwiesen werden, das da lautet: "nicht wer zuerst die Waffen ergreift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer dazu nötigt".
Auch die Revolution hat das deutsche Volk als ganzes nicht gewollt und, abgesehen von den sozialdemokratischen Kreisen, auch nicht gemacht, wie der Volksbeauftragte Ebert am 6. Februar d.J. hier behauptete. Es ließ vielmehr die Revolution aus den Gründen, die ich angedeutet habe, willenlos über sich ergehen,
(sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei)
ohne daß es die Notwendigkeit dieser Revolution hat einsehen können. Hatte doch der Reichstag kurz vorher in den wichtigsten Fragen so gewaltige Fortschritte angebahnt, wie sie ein Volk sonst in langen Jahren nicht zu machen pflegt. Der Parlamentarismus war eingeführt, der verantwortliche Reichskanzler und ein verantwortliches Reichsministerium bestellt worden, die Kommandogewalt unter die Zivilgewalt gestellt, das Zivil- und Militärkabinett beseitigt und das Recht des Kaisers, allein Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, aufgehoben worden. Und das alles ist im Wege friedlicher Evolution erreicht worden, die zudem, wie man damals auch allerseits betont hat, den weiteren Fortschritt nach keiner Richtung ausschloß und ausschließen sollte.
An Stelle dieser friedlichen Evolution, die für eine ruhige Weiterentwicklung durchaus Raum ließ, trat dann urplötzlich die Revolution ohne erkennbaren ethischen Grundgedanken
(sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei)
und ohne ein wesentliches anderes soziales und wirtschaftliches Ziel als die Sozialisierung, die allerdings von sozialdemokratischen Kreisen seit sehr langer Zeit nicht als ein Mittel, sondern als das Mittel zur Hebung der wirtschaftlichen Lage der arbeitenden Klasse betrachtet wurde. Diese Revolution aber hatte bis zum Tage, an dem die provisorische Verfassung in Kraft getreten ist, gerade das getan, was die Sozialdemokratie früher unter dem alten System auf das heftigste bekämpft hatte: sie hat - das ist zweifellos - eine nackte Klassenherrschaft und eine Klassendiktatur hervorgerufen,
(sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei)
welche Zustände zur Folge hatte, die so schlimm niemals unter dem alten System geherrscht hatten.
Unter den heute sichtbaren "Ergebnissen" der Revolution ist in erster Linie die Schaffung der Republik hervorzuheben. In bezug darauf habe ich für die Fraktion der Deutschen Volkspartei folgende Erklärung abzugeben:
"Die durch die Revolution im Deutschen Reich und in seinen monarchischen Einzelstaaten geschaffene Staatsform der Republik kann und wird erst durch die von der Nationalversammlung zu beschließende endgültige Verfassung eine rechtliche Grundlage erhalten. Jede geschichtswidrige Kritik an den ruhmreichen Leistungen und Überlieferungen der deutschen Monarchie lehnen wir ab. Wir erkennen jedoch an, daß im Hinblick auf die gegenwärtigen Verhältnisse die Erhaltung der monarchischen Staatsform ausgeschlossen ist, und sind daher bereit, der verfassungsmäßigen Einführung der republikanischen Staatsform unsere Stimme nicht zu versagen und an dem weiteren Ausbau der Verfassung mitzuwirken."
(Bravo! bei der Deutschen Volkspartei)
Wir, meine Damen und Herren - das möchte ich unserer Erklärung hinzufügen - werden stets in aufrichtiger Dankbarkeit weiter der Monarchen gedenken, die als erste Diener des Staates zusammen mit großen Staatsmännern und Feldherren in treuer und unermüdlicher Arbeit und Pflichterfüllung die Kraft und die Einheit Preußens und damit des Reichs begründet und beseitigt haben.
(Bravo! rechts.)
Wir glauben, daß die Worte, die der jetzige Reichspräsident Ebert am 6. Februar d.J. gesprochen hat:
"Die Revolution lehnt jede Verantwortung ab für das Elend, in das die verkehrte Politik der alten Gewalten ... das deutsche Volk gestüzt hat: ... sie ist auch nicht verantwortlich für unsere schwere Lebensmittelnot."
- wir glauben, daß diese Worte den Tatsachen nicht entsprechen.
(Sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei.)
Ich stelle folgendes fest:
Als die Revolution vom 9. November 1918 ausbrach, war die Organisation unserer Industrie, soweit nicht Stilllegung und Fehler der Zwangswirtschaft sie gelähmt hatten, war ferner die Organisation unserer Banken und die Organisation des öffentlichen und privaten Kredits im wesentlichen intakt. Die Betriebe arbeiteten, die Schornsteine rauchten und von der "kapitalistischen Unordnung", die, wie ein Regierungsflugblatt nach der Revolution meinte, durch die "sozialdemokratische Ordnung" ersetzt werden sollte, war recht wenig zu bemerken.
(Sehr richtig! bei der Deutschen Volkspartei.)
Dagegen artete die Revolution, wie mit Bedauern auch von mehreren Mitgliedern der sozialdemokratischen Mehrheitspartei festgestellt worden ist, sehr rasch in eine wüste Lohnbewegung aus, auf die man nur die Wort anwenden kann: "Jeder schien nur besorgt, es bliebe was übrig für morgen!" Ein Streik folgte dem andern. Die mit vollem Rechte vielgerühmte sozialdemokratische Erziehung und Organisationskunst versagt fast völlig.
(Zurufe von den Sozialdemokraten.) [...]
Quelle:
Stenographische Berichte der Verhandlungen der verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, 8. Sitzung am 15.2.1919
In: https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_wv_bsb00000010_00124.html
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_Riesser#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-2007-0307-508,_Jacob_Riesser.jpg