Harry Graf Kessler: Zwischen Geheimräten und Revoluzzern
Kessler wohnt der Nationalversammlung bei und schreibt über die Diskussionen zum Verfassungsentwurf. Gleichzeitig berichtet er von den anhaltenden Kämpfen im nahen Halle, die auch Weimar nicht als eine Insel des Friedens erscheinen lassen.
Volltext:
28 Februar 1919. Freitag. Weimar.
Früh in der Nationalversammlung, wo [Clemens von] Delbrück den Verfassungsentwurf heruntermachte als eine „Vorbereitung zur Auflösung des Deutschen Reiches“. Er sprach besser und lebendiger als neulich [Hugo] Preuss, aber doch im Geheimratsstil. Grösse fehlte auch ihm. - Berger sagte mir, er führe mit der Preussischen Regierung heute Abend fort; sie wollen versuchen, auf Umwegen nach Berlin durchzukommen. Der Angriff der Regierungstruppen auf Halle beginnt morgen. Zum Frühstück kamen Ernst Hardts und M' Young. Hardt meinte, die jetzigen Unruhen seien der Anfang der zweiten, wirklichen Revolution. Die Regierungstruppen sollen allerdings noch zuverlässig sein. In Weimar ist der Generalstreik für Montag angesagt. – Der Justizminister [Wolfgang] Heine besuchte mich Nachmittags. Angefangen mit ihm meinen Verfassungsentwurf für den Völkerbund, den ich ihm gestern geschickt habe, durchzusprechen. – Abends auch mit Nostitz darüber gesprochen. Er geht auf die Idee ein, den Staat zu bekämpfen; möchte sie sogar ausdehnen auf die Ablehnung der ganzen modernen europäischen staatlichen Entwicklung. Meint, wir sollten erklären, wir sähen ein, dass wir uns geirrt hätten, die Andren aber auch; wir wollten jetzt ganz neue Bahnen vorschlagen.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 162 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Delbr%C3%BCck,_Clemens_von_(1856-1921).jpg