Rudolf Hilferding: "Einigung des Proletariats"
In der Freiheit erscheint ein von Rudolf Hilferding verfasstes Aktionsprogramm der unabhängigen Sozialdemokratie, dass als Grundlage für die Einigung der Arbeiterklasse und damit der Erreichung des Sozialismus gedacht war. Der Ökonom Hilferding sollte nach der Wiedervereinigung von USPD und MSPD Reichsfinanzminister werden
Volltext:
Die nächsten Forderungen, auf die sich alle Arbeiter und Sozialisten einigen müssen, die die Fortführung der demokratischen in die sozialistische Republik erstreben, sind die folgenden:
I.
1. Schleunige Inangriffnahme der Sozialisierung der dazu reifen Wirtschaftszweige, vor allem des Bergbaus. Neben der Verstaatlichung ist insbesondere die Kommunalisierung oder Vergenossenschaftlichung der dazu geeigneten Industrien durchzuführen. Die Kommunen erhalten durch ein Ermächtigungsgesetz alle dazu geeigneten Befugnisse.
2. Die Durchführung der Demokratie in den Betrieben. Als Träger der sozialpolitischen Aufgaben, als Kontrollinstanzen für die Betriebsführung und als Hilfsorgane bei der Durchführung der Sozialisierung sind Arbeiterräte in den Betrieben zu wählen. Alle Maßnahmen der Wirtschaftspolitik müssen als Endziel auf die Vergesellschaftung gerichtet sein.
II.
1. Die Partei steht auf dem prinzipiellen Boden des Erfurter Programms. Ihre Politik muß eine selbstständige Arbeiterpolitik sein, die sich von opportunistischen Rücksichten auf die Bourgeoisie fernhält. Sie tritt ein für die volle, uneingeschränkte politische Demokratie, für volle Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Sie verwirft alle gewalttätige Putschtaktik und hält die Gewalt in der inneren und äußeren Politik nur zur Abwehr von Gewalt erlaubt. Sie erklärt die Einberufung einer aus allgemeiner gleicher Verhältniswahl hervorgehenden Volksvertretung als die Trägerin der obersten politischen Gewalt für notwendig.
2. Zur Verwirklichung voller Demokratie und zur Durchführung des Sozialismus ist die gänzliche Beseitigung der alten Herrschaftsinstitutionen der Obrigkeitsbureaukratie und des Militarismus notwendig. Daher ist die schleunige Ersetzung der bureaukratischen durch die Selbstverwaltung erforderlich. Die stehende Armee ist restlos zu beseitigen. Die völlige Demobilisierung unverzüglich durchzuführen und die vom Rätekongreß einstimmig angenommenen Soldatenforderungen sofort zu verwirklichen.
3. Erhaltung und Ausbau des Rätesystems, dessen Befugnisse in der Versammlung festgelegt werden. Neben den wirtschaftlichen Funktionen erhalten die Arbeiterräte nachstehende politische Aufgaben: Die Delegierten bzw. Arbeiterräte treten alljährlich zu dem Kongreß zusammen, der aus seiner Mitte den Zentralrat wählt. Der Zentralrat hat das Recht: Die Vorlagen an die Nationalversammlung vor ihrer Einbringung zu prüfen; selbstständig Gesetzentwürfe an die Nationalversammlung einzubringen; bei Ablehnung der von ihm eingebrachten Gesetzesvorschläge durch die Nationalversammlung eine Volksabstimmung durch die Regierung herbeiführen zu lassen. Er erhält ferner das Recht auf ein aufschiebendes Veto gegen die Beschlüsse der Nationalversammlung. Der Einspruch hat zur Folge, daß das Gesetz einer Volksabstimmung unterbreitet werden muß.
4. Zur Sicherung der Bevölkerung und ungestörten Durchführung der Regierungsgeschäfte ist die Errichtung einer republikanischen Volksarmee unverzüglich in Angriff zu nehmen, die vollständig auf demokratischer Grundlage aufgebaut ist. Sie kann die Grundlage einer künftigen Miliz sein, falls auf dem Friedenskongreß nicht die völlige Abrüstung zur Durchführung kommt.
5. Auf dem Gebiet der auswärtigen Politik verlangt die Partei getreu ihren Grundsätzen den Abschluß eines demokratischen Friedens, dessen Dauer durch die Errichtung eines Völkerbundes und Durchführung der Abrüstung gewährleistet ist. Sie verwirft jeden Gewaltfrieden, sie nimmt aber auch für das deutsche Volk sein volles und unbeschränktes Selbstbestimmungsrecht in Anspruch. Sie wünscht bis zum zusammentritt des Friedenskongresses die Vermeidung alles gewaltsamen Vorgehens und hält auch für die Ostfragen den Weg der Verhandlungen für allein Erfolg versprechend. Sie hält die eheste Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu allen Nationen für eine dringende Notwendigkeit.
Als wichtiges Mittel sozialistischer Auslandspolitik betrachtet sie die Wiederherstellung der Arbeiter-Internationale.
Die Partei ist der festen Ueberzeugung, daß die Verwirklichung des Sozialismus zur Vorbedingung hat die Vereinigung der gesamten Arbeiterklasse auf dem Boden dieses Programms. Die Spaltung in mehrere Parteien schwächt die proletarische Aktion und verursacht schwere Konflikte, die die Handlungsfähigkeit des Proletariats lähmen. Die Spaltung beruht nicht auf tiefgehenden Gegensätzen in den Arbeitermassen selbst, sondern auf verfehlter Politik der Führung. Die Einigung des Proletariats kann nur von unten aus verwirklicht werden, sie muß das Werk der Arbeiter selbst sein. Führer, deren Politik die Arbeitermassen getrennt erhält, dürfen kein Hindernis für die Einigung sein, sie müssen zurücktreten. Nur im Zeichen der Einigung wird der Sozialismus siegen.
Quelle:
Die Freiheit vom 09. Februar 1919, 2:71, Morgen-Ausgabe, S. 1.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Hilferding#/media/File:Bundesarchiv_Bild_102-00144,_Rudolf_Hilferding.jpg