Theodor Wolff kommentiert den Waffenstillstandsvertrag
Theodor Wolff verteidigt im Berliner Tageblatt das Verhandlungsgeschick der deutschen Delegation, darunter Erzberger, der auch in der Nationalversammlung scharf angegriffen wurde. Wolff sieht aber die Schuld in dem für Deutschland unbefriedigenden Ergebnis eher in der aussichtslosen Ausgangssituation und dem unversöhnlichen Verhalten der Westmächte.
Volltext:
T.W. Gegen den Reichsminister Erzberger wurde seit längerer Zeit, und seit kurzer mit besonderer Schärfe, der Vorwurf erhoben, er habe die Waffenstillstandsverhandlungen weder mit der nötigen Festigkeit, noch mit der nötigen Sachkenntnis geführt. Diese Vorwürfe sind auch in der Nationalversammlung schon geäußert worden, Erzberger, der gerade nach Trier abreisen wollte, hat in schneller Rede, gewissermaßen mit der Uhr in der Hand, darauf geantwortet, und eine Interpellation über diesen Gegenstand ist eingebracht. Erzberger wurde unter dem Ministerium des Prinzen Max von Baden zum Leiter der Waffenstillstandskommission ernannt. Er wurde ernannt, weil er während des Krieges schon sehr viel im Auslande verhandelt hatte, und weil seine parlamentarische Schlagfertigkeit nützlich werden konnte, und weil er gerade vorhanden war. Nicht derjenige führt ja immer die Braut heim, der treu und ergeben um sie wirbt. Mitunterwird ein anderer bevorzugt, der zufällig gerade zur richtigen Stunde am Rendezvousplatze ist. Erzberger hat sich seine Waffenstillstandskommission gewissermaßen als eine selbstständige Behörde eingerichtet, und obgleich man sich nach der verschwenderischen, tollen Kriegsorganisation nicht mehr recht über etwas wundern konnte, schien diese Existenz einer fast völlig unabhängigen Gelegenheitsdiplomatie doch ziemlich sonderbar. Sie war nur dadurch zu erklären, daß die Ententemächte die revolutionäre Regierung der Volksbeauftragten nicht als verhandlungsfähig ansahen, und daß so die Erzbergersche Kommission als einziges verwendbares Sprachorgan galt. Erzberger fuhr nach Spaa, und er fuhr nach Trier. Gerührt lasen wir all die Reden, die er im Salonwagen des Marschalls Foch, leider resultatlos hielt. Er blieb immer gleich heiter, geschäftig, fleißig, und sein rundes Gesicht blieb immer optimistisch übersonnt. Wie ein Röslein ranke er, sich an unseren Ruinen empor. Jetzt haben wir eine von der Nationalversammlung bestätigte Regierung, obgleich der Marschall Foch immer nur mit hochfahrender Geste von „den Deutschen“ redet und von der Regierung nicht zu wissen scheint. Auch diese Regierung hat es, in Uebereinstimmung mit den Parteiführern, für nötig gehalten, die neuen Waffenstillstandsbedingungen anzunehmen, die Herr Foch uns auferlegt. Das Telegramm an Erzberger ist nicht von dem Grafen Brockdorff-Rantzau unterzeichnet, sondern von dem Ministerpräsidenten Scheidemann. Das ist vermutlich nur geschehen, weil der Staatssekretär Erzberger nicht unter dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes steht.
Als der Marschall Foch uns, an einem früheren Haltepunkte unseres Dornenweges, eine enorme Zahl landwirtschaftlicher Maschinen abverlangte und seine Forderung durchsetzte, wurde zuerst die Frage vernehmbar, ob Erzberger ein genügend steifnackiger Unterhändler sei. Die Kritik wurde weit stärker, als es hieß. Erzberger habe der Entente, die uns angeblich mit Lebensmitteln versorgen wolle, die Herausgabe unserer gesamten Handelsflotte zugesagt. Erzberger hatte zwar gefordert, daß die deutsche Bemannung auf den Schiffen bleiben sollte, aber die Entente hat sich das Recht gesichert, diese Mannschaften fortzuschicken, „falls sie es für nötig hält“. Was die Ententemächte für die Benutzung der Schiffe bezahlen sollen, ist noch nicht recht klargestellt. Man braucht wohl niemandem erst lange zu erläutern, was für Deutschland, nach allen andern Verlusten, der Verlust der ganzen Handelsflotte bedeuten würde, an deren Masten sozusagen unser letztes Hoffnungsfähnlein weht. Wie sollen wir wieder Waren übers Meer schaffen, wie uns Nahrungsmittel und Rohstoffe holen, wenn uns kein Kahn mehr verbleibt? Zunächst wären, von allem anderen ganz abgesehen, dreißigtausend Seeleute in der vollen Bedeutung des Wortes aufs Trockene gesetzt. Dadurch würde den bolschewistischen Unruhestiftern in den Hafenstädten eine empfängliche Hörerschaft zugeführt. Der deutsche Handel würde für unabsehbare Zeit von der fremden Schifffahrt, vom Willen ausländischer Konkurrenten abhängig gemacht. Er würde am Strick zappeln und zerren müssen wie eine Ziege, die nur auf abgezirkeltem Raum grasen darf. Man hat gesagt, Erzberger hat in seiner sehr geschickten Rede erwidert, die Herren wären leider zu spät gekommen und hätten den Anschluß verfehlt. Er hat auch erklärt, die Handelsflotte solle der Entente nicht ausgeliefert, sondern zur Verfügung gestellt werden und das sei zweierlei. Die Entente verspreche, alle Schiffe wieder zurückzugeben, und wenn man überhaupt an Verträge glauben wolle, so müsse man auch diesem vertrauen. Sonderbar ist dann nur, daß die Entente sich auch um die noch gar nicht fertigen deutschen Schiffe kümmert und die Hergabe der Baupläne begehrt. Das läßt doch annehmen, daß man das deutsche Schiffswesen auch schon im Mutterleibe töten will. Nach den Nachrichten, die vorgestern abend kamen, hat Erzberger nun an den Marschall Foch ein Schreiben gerichtet, in dem er darauf hinweist, daß die versprochenen „endgültigen Abmachungen zwischen den Alliierten und Deutschland über die Menge und Preise der Deutschland zu liefernden Lebensmittel, sowie über die Bezahlung derselben“, nicht getroffen worden sind. „Erst wenn,“ heißt es in dem Briefe weiter, „diese beiden Fragen so geregelt sind, daß die Lebensmittelversorgung sichergestellt ist, kann die deutsche Regierung sich damit einverstanden erklären, daß die deutsche Handelsflotte zur Ausführung dieses Zweckes zur Verfügung gestellt wird.“ Zur Ausführung dieses Zweckes, und nicht zur Heimbeförderung der Ententetruppen nach den britischen Kolonien und nach Amerika. Die Befürchtung, daß die Schiffe weit mehr für solche Truppenheimfahrt als für unsere Magenversorgung dienen sollen, umschattet auch das harmloseste Gemüt. Es ist nicht ganz verständlich, warum die deutschen Seeleute sich aufs Festland zurückziehen müssen, wenn man die Schiffe weder zu behalten, noch hauptsächlich, oder allein, für Truppentransporte zu verwenden wünscht. Und die Schiffskenner der Entente, die eben in Hamburg gewesen sind, haben sich, wie es scheint, auch besonders freundlich für die großen Passagierdampfer interessiert.
Erzberger schreibt dem französischen Marschall, zu seinem lebhaften Bedauern seien die Ententedelegierten, die über die Lieferung und die Bezahlung der Lebensmittel verhandeln sollten, bisher nicht angelangt. Wir alle bedauern gleichfalls lebhaft, sind aber nicht mehr überrascht. In dem unangenehmen Lakaienbuche des Herrn Moritz Busch, in dem Bismarck und seine Leute nicht gerade immer die edelsten und humansten Ansichten bekunden, ist ein Gespräch, das nach der Uebergabe von Paris zwischen „dem Chef“ und Bismarck-Bohlen stattfand, mitgeteilt. Bismarck erzählte, daß Jules Favre von den Schwierigkeiten der Verproviantierung gesprochen hätte und als jemand dazwischen bemerkte, Stosch könne den Parisern im Notfalle Ochsen und Mehl abgeben, entgegnete der Chef, wenn die deutsche Armee nicht dadurch geschädigt werde, so solle Stoch das tun. Bismarck-Bohlen, eine Seele von einem Menschen, meinte, daß man den Parisern nichts zu geben brauche, und als Bismarck fragte: „Du willst sie wohl verhungern lassen?“ antwortete er kernig: „Jawohl.“ Bismarck beendete das Gespräch mit der Frage: „Ja, aber wie kommen wir dann zu unserer Kontribution?“ Die Entente möge aus dieser historischen Erinnerungen ersehen, daß Bismarck, der mit sehr vielen brutalen Worten in dem Buschbuche auftritt, immerhin für leben und leben lassen war. Wenn man so viel Menschlichkeitsphrasen drechselt, wie diese Völkerbundsgründer, und so vollständig gegen die Menschlichkeitspflichten handelt, dann wird man vor der Geschichte doch vielleicht ganz anders dastehen, als man heute glaubt. Was verheißen sie uns denn, was sollen wir denn Schönes erhalten, wenn wir ihnen unsere Schiffe leihen? Siebziegtausend Tonnen Fett, fünfzigtausend Tonnen Weizen, ein bißchen kondensierte Milch – viel zu wenig, um die Ziffern der Kindersterblichkeit herabzumindern – und alles natürlich gegen sofortige Zahlung in Waren oder in Gold. Ihre Delegierten aber treffen gar nicht ein, die Verhandlungen über das Fett und den Weizen können gar nicht stattfinden, und das einzige, was wir sehen, sind liebenswürdige Kommissionen, die durch Deutschland reisen und sich bemühen, die Ausdehnung des Elends zu ergründen, uns in den Magen zu schauen und unser Gewicht festzustellen. Wir werden aufgefordert, weiter auf leerem bauche zu rutschen oder nach dem Apfel zu springen, der immer wieder in die Höhe schnellt.
Im letzten Augenblick scheinen die Handelsschiffe ein wenig in den Hintergrund geraten zu sein. Dafür traten die polnischen Angelegenheiten in den Vordergrund. Der Ententemarschall hat bekanntlich auf die Karte Deutschlands eine Linie gezeichnet, hinter die das kleine deutsche Schutzheer zurückgenommen werden soll. Dadurch wird, vor den Friedensverhandlungen, den Polen ihr Raub garantiert. Das ist nicht nur ein klarer Rechtsbruch, sondern auch eine Verhöhnung des Gedankens, der jedem Friedensschlusse zugrunde liegt. In der Welt der Gesetzmäßigkeit und des Rechtes, die Herr Wilson fortwährend ankündigt, braucht offenbar der Abschluß eines Vertrages nicht erst abgewartet zu werden, und jeder kann sich vorher nehmen, was er will. Her Foch hat seine Linie so gezogen, daß Bentschen und Birnbaum jedem polnischen Handstreich preisgegeben sind. Wenn sie von den Polen besetzt werden, verlieren wir ein für die Volksernährung kaum noch entbehrliches Gebiet. Der große Marschall kann den Waffenstillstand alle drei Tage kündigen, und wir müssen also unablässig darauf gefaßt sein, daß er seinen Siegerdegen zieht. Da wir kaum alle Bedingungen pünktlich erfüllen können, die uns im ersten Abkommen, am elften November, diktiert wurden, ist es sehr möglich daß es ihm am günstigen Vorwande nicht fehlen wird. Die Regierung und die Parteiführer in Weimar sind der Meinung gewesen, daß das deutsche Volk in seinem heutigen Seelenzustande zu einer starken Politik nicht befähigt sei. Vielleicht wird das deutsche Volk durch den Marschall Foch über kurz oder lang in einem solchen Seelenzustand versetzt werden daß es solche Waffenstillstandsbedingungen nicht mehr erträgt. Jetzt haben wir ja auch die Verfassung des Völkerbundes kennen gelernt, über die man sich in Paris, ohne uns, geeinigt hat. Im „ausführenden Rate“ sollen Vertreter der Vereinigten Staaten, des britischen Reichs, Frankreichs, Italiens du Japans sitzen, und an Deutschland, das offenbar als eine Macht zweiten oder dritten Ranges angesehen wird, hat man anscheinend gar nicht gedacht. Wenn das eine endgültige Fassung sein sollte, blieben wir wohl besser draußen und allein. Dann wird mitten in Europa, zwischen all den edlen und tugendhaften Bundesbrüdern, ein Volk wohnen, das hoffentlich mehr und mehr sich von allem begangenen Unrecht reinigen, aber auch das Unrecht, das man ihm heute antut, schwerlich vergessen wird.
Quelle:
Berliner Tageblatt vom 17. Februar 1919, 48:74 (1919), Montags-Ausgabe, S. 1 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Wolff#/media/File:TheodorWolff1913.jpg