Thomas Mann: Das Reichskabinett hat gut reden!
Mann berichtet von der Beerdigung Kurt Eisners, der er jedoch nicht selbst beiwohnte. Zwar habe das Reichskabinett erklärt, dass die Räte nicht gebilligt werden dürfen, die Realität für weite Teile des Reiches sehe jedoch nach wie vor anders aus.
Volltext:
Mittwoch den 26. II. 19.
Stürmischer Vorfrühlingstag. Während ich die neu zu machende Passage zu Ende entwarf (es wird jetzt gehen, denke ich), wurde der Ermordete bestattet, unter Glockengeläute und starker Schießerei aus der Richtung der Stadt, an die Neujahrsnacht erinnernd. Frau Dr. Hallgarten und ihr Sohn waren zugegen. Es soll feierlich gewesen sein. Auch Heinrich hat, wie ich höre, gesprochen, was mir wahrscheinlich gewesen war. Er that es wohl für den politischen Rat und wird alle in der Luft liegenden Worte gebraucht haben, wie es sich gehört, wenn man einem politischen Menschenfreunde die letzten Ehren erweist. –
Spaziergang. Fing nach Tische an, »Das Gesetz der Form« von Hefele zu lesen und beschäftigte mich auch noch mit Goethes Plan zur »Achilleis«, dessen Absichten mich entzücken. Ich empfinde vollkommen den Reiz, den der Stoff auf Goethe ausgeübt hat. Die Nichtausführung ist ähnlich zu bedauern, wie beim Ahasver-Plan, der in Dichtung u. Wahrheit so verlockend gegeben ist. Das psychologische oder pathologische Motiv: Achill, der weiß, daß er sterben soll, sich in die Trojanerin verliebt und darüber sein Fatum »rein vergißt«, ist faszinierend und mutet übrigens irgendwie kleistisch an, - was aber wohl nur heißen will: modern. Wie daheim fühle ich mich der Goethe'schen Sphäre immer wieder, wie beglückt und stimuliert sie mich: Gelange ich zum »Hochstapler«, werde ich ganz darin leben und weben dürfen. - -
Das Reichskabinett erklärt, daß die Räte nirgends als politischer Faktor geduldet werden dürfen. Es hat gut erklären. Man hat hier jetzt Gelegenheit, eine Unfreiheit zu kosten, wie sie unter dem Ancien régime nie denkbar gewesen wäre. Post, Telephon, Telegraph werden censuriert werden. Brief-Censur besteht. Briefe, die Ungünstiges über unsere Lage ins Ausland (nur ins Ausland?) melden, werden konfisziert. Man hört, daß auswärtige bürgerliche Zeitungen nicht mehr zugelassen werden sollen. Die hiesigen sind vergewaltigt, übrigens auf boshaft humoristische Art: der Bayer. Kurier muß atheistische Artikel bringen, die liberalen Blätter radikal-sozialistische. Der Belagerungszustand besteht vorläufig fort, mit so früher Polizeistunde, daß ich um meinen Abendgang komme. Die 100 Geiseln bleiben in Gewahrsam. Der S. u. A.-Rat herrscht absolut; von der Einberufung des Landtags ist nur für den Fall die Rede, daß »die Umstände es erlauben«. Wie lange kann diese Tyrannei dauern? Andererseits sieht man nicht ab, wie es sich ändern soll, da alle Macht in den Händen des revolutionären Sozialismus ist. Das Reich wird nichts thun können. Allenfalls kann die Richtigstellung vom bayr. Mehrheitssozialismus ausgehen. Die allein unabhängige Zeitung ist die »Post«. –
Frl. Willich telephonierte: Die Vorlesung soll Sonntag Vormittag stattfinden. Es soll mir recht sein. –
Begann endlich einmal einen Brief an Vitzthum. Ging vorm Abendessen etwas in dem dunklen Teil der Allee auf und ab. Weiter in Hefeles »Gesetz der Form« gelesen, das mir Dr. Bernhart empfahl. Weiß aber nicht sehr viel damit anzufangen. -
K. sprach mir begeistert von Tolstois Volkserzählungen, die sie den Kindern vorliest, und die ich lesen muß. -
Heute war strengster Feiertag. Keine Trambahnen. Sonntägliche Spaziergänger die Isar entlang. -
Der Sturm hat sich gelegt. Es war abends ein ruhiger, feuchter Sternenhimmel.
Quelle:
de Mendelssohn, Peter (Hrsg.), Thomas Mann. Tagebücher 1918-1921, Frankfurt am Main 1979, S. 160-162.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Eisner#/media/File:Kurt_Eisner,_Bodendenkmal_M%C3%BCnchen.jpg