Victor Klemperer beklagt den Alltags-Antisemitismus
Klemperer berichtet von einem faux pas, der ihm in der Universität unterlaufen ist und beschließt sich in Zukunft peinlich genau an die Uhr zu halten. Er trifft Professoren und bei Schick unterhält er sich mit dessen Frau, die der Meinung ist, die Juden seien schuld am Krieg gewesen. Solche antisemitischen Anschuldigungen waren in bürgerlichen Kreisen nicht unüblich.
Volltext:
Mittwoch Morgen 9 Uhr. 12/II 19. Vaters Todestag.
[...] Gestern ging es mir besonders schlecht. Über D'Urfé frei zu sprechen machte mir bei der Compliciertheit des Themas sehr große Mühe. Auch beging ich am Schluß einen kleinen Fehler, übrigens schon zum zweiten mal: ich war an einem Abschnitt angelangt, als die Saaluhr genau auf 4 Uhr stand. Da schloß ich. Das Glockenzeichen kam aber erst eine Minute [später], u. so sah sich alles verwundert nach der Uhr um, als ich aufhörte. Von jetzt ab werde ich bis zum Glockenton reden, u. wenn ich auch irgendeinen neuen Abschnitt nur eben erst beginne. – [...]
Am Vormittag hatten wir Professoren-Antrittsvisiten gemacht. Bei Bäumker Karte abgegeben, bei Schick, sehr elegant u. zugleich intim Ainmillerstr wohnend, aufgenommen. D. h. von seiner Frau, er selbst lag krank. Alte stattliche Dame in Hut u. Schleier, durch den der weiße Kinn- u. Schnurrbart spießte. Völlige Engländerin, gut aber accentuiert u. mit gebrochenem Accent deutsch redend, obwohl sie mindestens 30 Jahre in Deutschland lebt. Sie war bei Beginn des Krieges in England, ihr Mann war deutscher Offizier. Sie war sehr erfreut, als wir uns versöhnlich gegenüber England u. Italien äußerten. Sie hielt, Evas Hand zwischen den ihrigen, am Schluß eine richtige pathetische Rede. Wenden Sie Ihr Wissen im Sinn der Versöhnung an. Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da! Eva fand das, mit Recht, typisch englisch. Aber nun: ihr drittes Wort war, in England habe niemand den Krieg gewollt, gehetzt habe nur die Northcliffe- e cioè die Judenpresse! Die Juden seien am Kriege schuld! Die Juden also, die international versippten, die im Frieden ihre Geschäfte machen, am Kriege schuld! Welch ein Glück für Europa sind die Juden. An Krieg u. Frieden, Gewinn, Verlust, an allem Peinlichen sind immer sie schuld! Wir hörten schweigend zu. –
Bei Vaters Tode war ein Pelz da, den Mutter gegen meinen Willen für mich umarbeiten ließ. Sie zahlte damals, Februar 1912, 100 M. dafür. Ich trug ihn nie. Weil er mir zu schwer war, u. weil Eva keinen Pelz besitzt. Wir holten ihn jetzt völlig zerknittert, aber gut erhalten aus einer Kiste bei Wetsch. Zugleich mit einem Wintermantel, der mich endlich von dem zu leichten Sommer überzieher erlöst. Ich beschloß Verkauf des Stückes. Hans M. behauptet, 5-700 M. dafür zu erhalten. Ich bin skeptisch ... Wir wollten gestern zum Kaffee zu Hans, trafen ihn vor seiner Wohnung; seine Frau nicht auf dem Posten, überreizt durch zu viele Geschäftsbücher, ruhebedürftig. Am Abend kam Hans eine Weile hierher, danach saßen wir mit ihm im Stephanie. Er ist ganz u. gar im Schlepptau der fanatischen u. verlogenen Auffassungen We kerles. Die unsocialistische Blutregierung Ebert, die kommende eigentliche Revolution, der Einheitslohn für alle Arbeiter, auch die »geistigen«, die armen Arbeitslosen ...
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 68 f.
Bild:
https://en.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-S90733,_Victor_Klemperer.jpg