Victor Klemperer: Es geht bergauf! Abgesehen von dem Putsch...
Klemperer berichtet freudig von seinen Erfolgen, zum einen ein Auftrag, Texte für ein Lexikon zu schreiben und zum anderen das Erscheinen seines ersten politischen Aufsatzes in den Leipziger Neuesten Nachrichten. Dieser persönliche Erfolg wird jedoch mit den Unruhen in München kontrastriert. Klemperer fühlt sich schuldig, da er seine Frau Eva in Gefahr gebracht hatte.
Volltext:
Mittwoch Abend nach 11 Uhr 19/II 19.
Heute früh - Vobler sprach mir vor Monaten davon, ich hatte längst alle Hoffnung aufgegeben - hat mich Walzel angefragt, ob ich im Handbuch der Literaturgeschichte, das sich vielbändig nach Epochen u. philosophischen Gesichtspunkten ordnen will, einen Band von 20 (Lexikon) Druckbogen übernehmen wolle: Romanische Literatur von der Renaissance bis zur französischen Revolution. Ich habe zugesagt u. fühle mich sehr beschwingt ... Heute Nachm. kamen Belegexemplare der Leipziger N. N. Mein Artikel über die Münchener Bohème-Politik unter der Überschrift »Politik u. Bohème von unserm A. B. Mitarbeiter in München« zwei Spalten lang im Hauptblatt über dem Strich abgedruckt. Auch das hat mir sehr wohlgetan. Mein erster politischer Artikel. Ich habe Harms eben in langem Dankbrief mein Herz ausgeschüttet. Daß zwei Menschen in mir wohnen, homo politicus u. homo doctus. Man möge mich nach Paris schicken für die L. N. N., so wolle ich beiden gerecht werden. - Heute Nachmittag lernte ich bei Hans M. Frau u. Frl. Eisner kennen. Das Mädchen robust u. rothaarig, aus erster Ehe. Die Frau zart, jung. Beide Menschen einfach u. bescheiden. Die Frau spricht nur schwärmerisch von Eisner. Wer ihn höre sei ihm nach drei Minuten gewonnen, niemand widerstehe ihm, Bauern auf dem Lande u. Streikende hätten bei seinen Reden geweint!
- Als ich zum Abendessen kam, hörte ich, am Nachmittag sei hier geputscht u. geschossen worden. Mit schlechtem Gewissen (weil ich sie in Gefahr brachte) fuhr ich nach 8 Uhr mit Eva u. Pontius zum Bahnhof. Er war durch Postenkette abgesperrt, man sah zwei Feuer u. (ich glaube wenigstens) ein Feldgeschütz davor. Die Bahn mußte ohne anzuhalten bis zum Stachus weiter. Dort standen einzelne Menschengruppen zusammen, in deren Kern sich immer zwei Leute unterhielten oder stritten, während die andern herumstanden ohne zu wissen, weßhalb. Nur die schräg zum Bahnhof führende Straße war dicht gefüllt. In der übrigen Stadt völlige Stille. Wir gingen zum Stephanie. – [...]
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 73 f.
Bild:
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