A.- & S.-Räte fordern einen zweiten Reichsrätekongress
Die Wahl zur Nationalversammlung hatte unter überwältigender Beteiligung der Bevölkerung die politischen Karten neu verteilt. Ins Hintertreffen gerieten hierdurch die weiterhin bestehenden Arbeiter- und Soldatenräte, die einen Anspruch auf Alleinvertretung der Volksinteressen nun nicht mehr verwirklichen konnten. Mit Aufrufen wie diesem versuchten radikale Kräfte innerhalb der Räte gegen diesen Bedeutungsverlust anzukämpfen.
Volltext:
Die Arbeiter- und Soldatenräte sind die Träger der revolutionären Errungenschaften. Eine baldige Neuordnung Deutschlands in wirtschaftlicher, politischer und sozialer Beziehung ist nur möglich unter aktiver Beteiligung des werktätigen Volkes, das sich in den Arbeiter- und Soldatenräten eine der Umwälzung des Staatswesens entsprechende Vertretung geschaffen hat. Die Festigung und der Ausbau der A.- und S.-Räte sowie die Erweiterung und Vertiefung ihrer Wirksamkeit liegt im Interesse des werktätigen Volkes, der Sozialisierung und der freiheitlichen politischen Neugestaltung Deutschlands.
Den A.- und S.-Räten drohen aber nach dreimonatlichem Bestehen schwere Gefahren. Die Bürokratie des alten Regimes stellt ihnen passiven und aktiven Widerstand entgegen. Das kapitalistische Unternehmertum versagt mehr und mehr den A.- und S.-Räten die Anerkennung. Die Soldatenräte sollen durch Regierungsverfügungen und infolge der wiedererwachten Anmaßung des Offizierskorps um die ihnen vom ersten Rätekongreß zugesprochene Kommandogewalt gebracht und zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt werden.
Vor allem droht aber den A.- und S.-Räten aus der Nationalversammlung eine ernste Gefahr. Diese gesetzgebende Körperschaft hat eine starke, rätefeindliche Mehrheit. Es ist zu erwarten, daß diese Mehrheit ihre Macht dazu missbrauchen wird, die A.- und S.-Räte zu beseitigen.
Des weiteren werden in dem der Nationalversammlung vorgelegten Entwurf des neuen Staatsverfassungsgesetzes die A.- und S.-Räte überhaupt nicht erwähnt. Würde dieser Entwurf Gesetz, so hätten die A.- und S.-Räte jedes Lebensrecht verloren. Die Verfassung des neuen Deutschland wäre auf einer bürgerlich-demokratischen Grundlage, ohne jeden proletarischen Einschlag, aufgebaut.
Die A.- und S.-Räte haben also damit zu rechnen, daß sie in absehbarer Zeit aus dem öffentlichen Leben verdrängt und ein unrühmliches Ende nehmen werden.
Die A.- und S.-Räte würden ihre Pflichten gegenüber dem werktätigen Volke gröblich verletzen, wenn sie sich willenlos und schweigend ausschalten ließen. Die am 31. Januar 1919 in der Philharmonie tagende, von über 2.000 Teilnehmern besuchte Vollversammlung der Groß-Berliner A.- und S.-Räte sowie der kommunalen A.- und S.-Räte der Gemeinden Groß-Berlins richtet daher an alle A.- und S.-Räte Deutschlands die Aufforderung, Schulter an Schulter mit ihr gegen jede offene oder versteckte Vergewaltigung der A.- und S.-Räte anzukämpfen. Die Vollversammlung fordert alle A.- und S.-Räte Deutschlands auf, mit ihr gemeinsam vom Zentralrat der A.- und S.-Räte Deutschlands die schleunige Einberufung eines Rätekongresses, mindestens im Laufe des Monats Februar zu verlangen. Die Einberufung kann, unter Berücksichtigung der inzwischen eingetretenen Demobilisierung, nach demselben Modus erfolgen wie beim ersten Rätekongreß.
A.- und S.-Räte Deutschlands! Es gilt Euer Sein! Es gilt Eure Wirksamkeit für Sozialismus und politische Freiheit, es gilt das Wohl des werktätigen Volkes. Seid wachsam und bietet der drohenden Gefahr die Stirn!
Quelle:
Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 69f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeiter-_und_Soldatenrat#/media/File:Bundesarchiv_Bild_146-1988-036-29,_Reichsversammlung_der_Arbeiter-und_Soldatenr%C3%A4te.jpg