Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

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Deutsche als Beschützer der Juden?

Im Zentralorgan des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens - der größten Organisation des deutschen Judentums - äußert man sich gleichermaßen schockiert über die skrupellose Aneignung von deutschem Land durch den polnischen Staat und die Ausschlachtung der Ereignisse durch die deutsche Rechte. Die polnischen Juden seien die Hauptleidtragenden der Verfolgung im Osten und es sei das alte Regime der Hohenzollern gewesen, welches dort Deutsche und Juden gleichermaßen schutzlos zurückließ. Dass auch die Verhältnisse in Deutschland nicht unbedenklich sind, gibt das Blatt weiter unten zu bedenken. Antisemiten würden offenbar schon an antijüdischen Verschwörtungstheorien basteln und den Juden auch noch die Revolution in die Schuhe schieben.

Volltext:

Von der Judenverfolgung in Warschau

Die [DVP-nahe, Anm.] „Tägliche Rundschau“ brachte vor kurzem eine Kritik der „schmachvollen Vorfälle in Warschau“. Da ich die Revolution und ihre Wirkungen in Warschau von Anfang bis zu Ende miterlebte, erlaube ich mir, hierzu folgendes zu bemerken:

Nach der „T. R.“ soll der Warschauer Soldatenrat die Hauptschuld an all dem Unheil tragen. Zugegeben ist, daß die namentlich im Anfang mit der Revolution verbundene Desorganisation und die dadurch hervorgerufene Kopflosigkeit vielfach dazu beigetragen haben, daß die Polen den günstigen Moment für sich ausnutzen konnten. Auch bin ich weit davon entfernt, alle einzelnen Maßnahmen des Warschauer Soldatenrats gutzuheißen. Aber es ist anzuerkennen, daß unter den obwaltenden Umständen, insbesondere, da Blutvergießen vermieden werden mußte, der Soldatenrat immerhin erträgliche Bedingungen für den Abtransport erzielt hat.

Es muß leider auch betont werden, daß die deutsche Zentralregierung sich schwer an der deutschen Besatzung in polen dadurch versündigt hat, daß sie im entscheidenden Moment der allgemeinen Desorganisation den tüchtigen polnischen Feldherrn und zuletzt auch politischen Führer Josef Pilsudski freigelassen hat. Dem Organisator Pilsudski, der einen hervorragenden Stellvertreter an der Spitze der Legionen zurückgelassen hatte, war es ein leichtes, den ihm von den Deutschen selbst gebotenen, geradezu fabelhaft günstigen Moment so gut auszunutzen, wie es eben ging.

Die „T. R.“ aber weiß angesichts der verwickelten Etappenverhältnisse – in Belgien ging es bekanntlich nicht viel anders zu – nichts Besseres, als einen „isrealitischen Vizefeldwebel“ für alle Unbill verantwortlich zu machen und dementsprechend zu beschimpfen. Tatsächlich hat ein jüdischer Vizefeldwebel verantwortlich mitgearbeitet, aber nur im Rahmen eines Kollegiums, dessen sämtliche übrigen Mitglieder andersgläubig waren. Weshalb also muß nur die Religion des Juden gebrandmarkt werden? (Weil die „Tägl. Rundschau“ ein Antisemitenblatt ist. D. Red.)

Die Vertreter des alten Regimes sollten sich selbst an die Brust schlagen! Wenn überhaupt einzelne Personen für den Warschauer Zusammenbruch verantwortlich gemacht werden können, so sind sie es ausschließlich gewesen, die sich übrigens – wie bekannt – im letzten Augenblick sehr wenig männlich gezeigt haben. Was wurde denn getan, um den Putsch im Keim zu ersticken oder ihm zu begegnen, nachdem er, was dem Beobachter in den letzten Wochen klar sein musste, unvermeidlich geworden war? Von den Polen war gut vorgearbeitet, von den Deutschen – was niemand bis nach der Katastrophe für möglich gehalten hatte – kein einziger Soldat in Bewegung gesetzt worden. Das war schon mehr als kindliche Gutgläubigkeit. Jedes Kind in Warschau sah nach all den Protestumzügen, Ultimaten usw. den Aufruhr voraus, der mit der Räumung kommen mußte. Der einfache Landsturmmann fragte immer wieder besorgt, ob denn genügend von oben her gesichert sei oder ob nicht besser so schnell wie möglich geräumt werde. Als immer mehr Legionen heranrückten und die Stadt besetzten, munkelte man, vom Westen seien zum Schutze der Deutschen ganze Divisionen im Anzuge. War doch das österreichische Okkupationsgebiet schon völlig in den Händen der Polen! Aber nichts ist geschehen, und auf diese Weise ist den Polen das Okkupationsgebiet mit allen unseren Reichtümern vom alten Regime geradezu in die Hände gespielt worden.

Die Hauptleidtragenden bei dieser Räumung waren die polnischen Juden, da sie nicht nur mit ihrem Gut, sondern mit ihrem Lebenden Abzug der Deutschen büßen mussten. Die Logik der Polen ging dahin, daß sie, nachdem sie mit den Deutschen fertig geworden waren, nun mit ihren eigentlichen „Landesfremden“ abrechnen wollten: den Juden. Es ist, wie immer, der wirtschaftliche Neid, der angesichts des Elends dieses jüdischen Proletariats so widerwärtig wirkt. Welch ein Vorbild sind doch diese Polen!

Mich haben viele Juden beim Abzug unter Weinen bestürmt, wir Deutsche sollten doch zu ihrem Schutz im Lande bleiben, da schreckliche Pogrome bevorständen. Sie wurden denn auch gleich zu Hunderten in der Stadt und auf dem Lande gequält, unter der Beschuldigung, sie seien die Unruhestifter, die Bolschewiki, die Deutschenfreunde, wie es gerade passte. Beweis auch die Pogrome in Lemberg nach dem Abzuge der Oesterreicher! Da ist es denn doch eine Lächerlichkeit, die nur noch durch die Unwissenheit übertrumpft wird, wenn ein Jude als ein Gegensatz zum deutschen Interesse befindlich gezeichnet wird.

Assessor Dr. Meyer, zurzeit Düsseldorf.

[…]

„Knüppelserie zur neuen Freiheit“ veröffentlichte Herr Arthur Dinter in der alldeutschen „Deutschen Zeitung“ (15. Dezember 1918). Einige Reime seien hier abgedruckt:

 

Zentralrat und Vollzugsausschuß!

Zu Hü und Hott noch Spartacus!

Und an der Spitze Itzig-Cohn!

Es lebe die deutsche Revolution!...

Schon naht als „Ordner“ Marschall Foch,

Der Michel, der schläft immer noch!

Dieweilen tanzt auf ihm herum

Das oriental’sche Publikum…

Jedoch der deutsche Michel träumt!

Die Freiheit, jüdisch aufgezäumt,

Ward ihm zum bunten Narrenkleid –

Mir tut der dumme Michel leid!

 

Uns auch, wenn Michel derlei Verse lesen und sich solche geistigen Führer gefallen lassen muß. Posie mangelhaft, Gesinnung noch mangelhafter.

Arthur Dinter

Quelle:

Im deutschen Reich - Heft 1 - Jan. 1919

In: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/pageview/2355153

http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/zoom/2355157

 

Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Artur_Dinter#/media/File:Arthur_Dinter,_Bundesarchiv_Bild_119-1416jpg.jpg

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Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
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(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)