Die provisorische Reichsverfassung
Zehn Tage nach der Wahl der Nationalversammlung konnte man mit dem Entwurf für ein "Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt" einen weiteren Schritt Richtung Demokratie und Republik gehen. Die dringende Frage der Beteiligung der Länder sowie ihr Verhältnis zueinander und zum Reich sollten darin geklärt werden, ebenso wie die Bestimmungen für die neue Regierung und ihrer Mitglieder.
Volltext:
Provisorische Reichsverfassung.
Die „D.D.R.“ veröffentlichen den Entwurf des Gesetztes über die vorläufige Reichsgewalt. Dieser Entwurf ist aus den Beratungen der bundesstaatlichen Kommission hervorgegangen und hat in einer sehr langen Beratung des Kabinetts am Dienstag einige Änderungen erfahren. Der Zentralrat, der ebenso wie die Regierung erhebliche Bedenken hatte, wird den Entwurf heute nochmals durchberaten und dann erst endgültig Stellung zu ihm nehmen. Am Donnerstag wird er wegen der vorgenommenen Änderungen noch einmal den bundesstaatlichen Vertretern vorgelegt werden. Der Entwurf lautet:
§ 1. Die verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung hat die Aufgabe, die künftige Reichsverfassung sowie auch sonstige dringende Reichsgesetze zu beschließen.
§ 2. Die Einbringung von Vorlagen der Reichsregierung bedarf unbeschadet des Absatzes 4 der Zustimmung des Staatenausschusses. In dem Staatenausschuss hat jeder deutsche Freistaat mindestens eine Stimme. Bei den größeren Freistaaten entfällt grundsätzlich auf eine Million Landesbewohner eine Stimme, wobei ein Überschuss, der mindestens der Einwohnerzahl des kleinsten Freistaates gleichkommt, einer vollen Million gleichgesetzt wird. Kein Freistaat kann durch mehr als ein Drittel der Stimmen vertreten sein. Demgemäß sind im Staatenausschuss vertreten Preußen mit 19, Bayern mit 7, Sachsen mit 5, Württemberg und Baden mit je 3, Hessen mit 2 und die übrigen Bundesstaaten mit einer Stimme. Den Vorsitz im Staatenausschuss führt ein Mitglied der Reichsregierung.
Wenn Deutsch-Österreich sich dem Deutschen Reiche anschließt, so erhält es das Recht der Teilnahme am Staatenausschuss mit einer durch Gesetz festzustellenden Stimmenzahl. Bis dahin nimmt es mit beratender Stimme teil. Kommt eine Übereinkunft zwischen Reichsregierung und Staatenausschuss nicht zustande, so kann jeder Teil seinen Entwurf der Nationalversammlung zur Beschlussfassung vorlegen.
§ 3. Die Mitglieder der Reichsregierung und des Staatenhauses können an den Verhandlungen der Nationalversammlung teilnehmen und jederzeit das Wort ergreifen, um die Ansicht ihrer Regierungen zu vertreten.
§ 4. Die künftige Reichsverfassung wird von der Nationalversammlung verabschiedet. Der Gebietsbestand eines Freistaates kann jedoch nur mit seiner Zustimmung geändert werden.
Im übrigen kommt ein Gesetz durch Übereinstimmung zwischen Nationalversammlung und Staatenausschuss zustande. Ist eine solche Übereinstimmung nicht zu erreichen, so hat der Reichspräsident die Entscheidung durch Volksabstimmung herbeizuführen.
§ 5. Auf die Nationalversammlung finden Artikel 21 bis 23 und 26 bis 32 der bisherigen Reichsverfassung entsprechende Anwendung.
§ 6. Die Geschäfte des Reiches werden von einem Reichspräsidenten geführt. Der Reichspräsident hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reiches Verträge mit den auswärtigen Mächten einzugehen sowie Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen. Kriegserklärungen und Friedensschlüsse erfolgen durch Reichsgesetz.
Verträge mit fremden Staaten, die sich auf Gegenstände der Reichsgesetzgebung beziehen, bedürfen der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staatenausschusses.
Sobald das Deutsche Reich einen Völkerbund mit dem Ziel des Ausschlusses aller geheimen Verträge beigetreten sein wird, bedürfen alle Verträge mit den in dem Völkerbund vereinigten Staaten der Zustimmung der Nationalversammlung und des Staatenausschusses. Reichspräsident ist verpflichtet, die gemäß der §§ 1-4 und 6 beschlossenen Reichsgesetze und Verträge im Reichsgesetzblatt zu verkünden.
§ 7. Der (provisorische. Die Red.) Reichspräsident wird von der Nationalversammlung mit einfacher Stimmenmehrheit gewählt. Sein Amt dauert bis zum Amtsantritt des neuen Reichspräsidenten, der auf Grund der Reichsverfassung gewählt wird.
§ 8. Der Reichspräsident beruft für die Führung der Reichsregierung ein Reichsministerium, dem sämtliche Reichsbehörden und die Oberste Heeresleitung unterstellt sind.
Die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens der Nationalversammlung.
§ 9. Alle zivilen und militärischen Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung durch einen Reichsminister. Die Reichsminister sind für die Führung ihrer Geschäfte der Nationalversammlung verantwortlich.
Die Kopenhagener Zeitung „Nationaltidende“ führt in einem Leitartikel, überschrieben „Preuß und die Preußen“ aus: „Georg Bernhard deutet in der „Vossischen Zeitung“ an, daß man die Schwierigkeiten hinsichtlich Preußens dadurch umgehen könne, daß man den bundesstaatlichen Gedanke aufgebe, Hier wird zweifellos etwas angedeutet, das die Möglichkeit der künftigen Entwicklung andeutet, aber es sehr zweifelhaft, ob das deutsche Volk schon dafür reif ist.“
Quelle:
Vossische Zeitung vom 29. Januar 1919, Nr. 53 Abend
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bimage%5D=1&set%5Bzoom%5D=default&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190129-1-0-0-0.xml
Bild:
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