Die Sozialdemokratie in der Nationalversammlung
Nachdem dem Ende der Wahlen analysiert der Vorwärts die Ergebnisse, in denen zumindest für Berlin zwei Befunde entdeckt werden: zum einen besteht eine Zweidrittelmehrheit für den Sozialismus und zum anderen eine Dreiviertelmehrheit für die Demokratie. Könnte das über kurz oder lang eine fehlerhafte Beobachtung gewesen sein? Einen Ausblick auf ihr Auftreten in der Nationalversammlung kann die MSPD trotzdem geben.
Volltext:
Die bisherige Zusammenstellung der Wahlergebnisse im Rechte zeigt, daß die beiden sozialdemokratischen Parteien zusammen von der Mehrheit in der Nationalversammlung weniger weit entfernt bleiben werden, als anfangs zu vermuten war. Woraus sich mit der allergrößten Wahrscheinlichkeit der Schluß ergibt, daß die Partei einen glatten Sieg errungen hätte, wenn sie, wie das in früheren Zeiten eine Selbstverständlichkeit war, einig und geschlossen in den Wahlkampf eingetreten wäre.
Was zunächst Berlin betrifft, so ist es im Wandel der Zeit, durch Krieg und Revolution, eine durchaus sozialistische Stadt geblieben. Von 1 002 671 Stimmen entfielen 641479 auf die beiden sozialdemokratischen Parteien, die insgesamt neun von vierzehn Mandaten besetzen dürfen. Aber auch die Bürgerlichen mit ihren 361 192 Stimmen erscheinen als eine nicht unbeträchtliche Macht. Das System der Verhältniswahl kennt keine „aussichtslosen Kreise“ und darum keine politische Passivität. Jede Partei hat Aussicht am Erfolg mitbeteiligt zu werden, auf jede Stimme kommt es an. Und so kann man erleben, daß schon totgeglaubte Gäule wieder recht kräftig um sich schlagen beginnen.
Die Spaltung der sozialistischen Stimmen in Mehrheit und Minderheit ist unter diesen Umständen ein wenig zeitgemäßer Luxus. Die Unabhängigen erscheinen in Berlin stärker als sie vermutlich selbst erwartet hatten. Offenbar hat hier die Niederwerfung des Spartakus-Aufruhrs auf die Gemüter vielfach anders gewirkt als in den meisten anderen Gegenden Deutschlands. Die Sympathie vieler Arbeiter neigt zu den Besiegten – nicht wegen ihrer Ideen, sondern weil sie die besiegten sind, und das tragische Ende der Spartakusführer war nur geeignet, diese Sympathien zu verstärken. Von solchen Gefühlen bewegt, begreifen viele Berliner Arbeiter noch nicht recht, daß die Sozialdemokratie gehandelt hat, wie sie handeln mußte zur Verteidigung der sozialdemokratischen Grundsätze und der höchsten Interessen der Arbeiterbewegung. Wir zweifeln nicht daran, daß bei späterer ruhigerer Ueberlegung diese Einsicht kommen wird. Die Unabhängigen verdanken einer gefühlsmäßigen Regung, die sie geschickt und skrupellos auszunutzen verstanden, in Berlin einen Augenblickserfolg.
Trotzdem hat die Mehrheitspartei selbst in Berlin ihre Stellung als Mehrheit mit einem Vorsprung von fast 100 000 Stimmen behauptet, ein Beweis, daß das sozialistische Berlin, genau so wie das sozialistische Reich, in seiner erdrückenden Mehrheit für bolschewistische Methoden nichts übrg hat.
Die 275 915 Wähler der Unabhängigen sind gewiß zum allergrößten Teil keine Spartakisten und Bolschewisten, sondern Sozialdemokraten mit einer gefühlsmäßigen Neigung zum – scheinbar größeren Radikalismus. Aber selbst, wenn sie allesamt Bolschewisten und Anhänger terroristischer Methoden wären, so wären sie immer nur 275 915 gegen 727 756 Berliner Wähler und Wählerinen, die sich durch ihr Votum als unzweideutige Gegner des Terrors bekannt haben.
Das ist die Bedeutung der Berliner Wahl: Zweidrittelmehrheit für den Sozialismus, Dreiviertelmehrheit gegen jede Vergewaltigung der Demokratie.
Betrachtet man die Verhältnisse im Reiche, so erscheint der Name der alten Sozialdemokratie als „Mehrheitspartei“ in noch viel höherem Maße berechtigt. Es dürften insgesamt fünf- bis sechsmal mehr sozialdemokratische Stimmen abgegeben worden sein als unabhängige. Die „Freiheit“ selbst muß gestehen, daß ihre Partei, die als bescheidene Gruppe in der Nationalversammlung erscheinen wird, noch keine Reichspartei ist. „Reichspartei“ könnte sie aber nur werden durch weitere Absplitterung von der alten Partei, was eine weitere Schwächung für das Ganze bedeuten würde. Darum wird, glauben wir, unter den Arbeitern im Reiche sehr wenig Neigung bestehen, die Unabhängigen noch zu einer Reichspartei werden zu lassen.
Auf alle Fälle wird die Sozialdemokratie in der Nationalversammlung so stark auftreten, daß ihre Ausschaltung auf dem Wege der bürgerlichen Sammlung unmöglich wird. Unendlich viel wird davon abhängen, ob die Partei der Deutschen Demokraten genug demokratische Ueberzeugung und soziales Verständnis aufbringen wird, daß zwischen ihr oder einem Teil von ihr und der Sozialdemokratie ein nutzbringendes Arbeiten möglich wird. Sie wir das Zünglein an der Wage bilden, und von ihrer staatsmännischen Einsicht wird es großenteils abhängen, ob das Schiff der neuen deutschen Reichsverfassung ohne neue schwere Stürme in den Hafen eingebracht werden kann.
Im übrigen berechtigen uns die Wahlen zu der Hoffnung, daß das heute noch Fehlende bald nachgetragen werden wird, und daß der erste Reichstag der Republik, der noch in diesem Jahre zu wählen ist und der selbstverständlich in Berlin tagen muß, eine sozialdemokratische Mehrheit haben wird.
Quelle:
Der Vorwärts vom 22. Januar 1919, 36:39 (1919), Morgen-Ausgabe, S. 1 f.