Georg Bernhard: Zu spät! Es war viel zu spät!
Es ist schließlich soweit: die Wahlen zur Nationalversammlung finden statt. Nicht einmal zwei einhalb Monate nach der Revolution mit all ihren Wirren und dem neuen Wahlsystem konnte der Gang zur Urne reichsweit organisiert werden. Doch für manche Zeitgenossen ist dieser Gang viel zu spät erfolgt. Darüber, was eine eher angesetzte Wahl für einen Ausgang genommen hätte, wird am eigentlichen Wahltag viel spekuliert.
Der produktive Stimmzettel.
Eine Betrachtung zur Wahl.
Der Tag der Nationalwahlen ist angebrochen. Viel zu spät.
Viel zu spät für das deutsche Volk und das Deutsche Reich. Denn was wäre alles verhindert worden, wenn schon im November die Nationalversammlung hätte zusammentreten und über Form und Schicksal des Reiches hätte entscheiden können. Es bedurfte gar nicht erst der Revolution, um eine Nationalversammlung notwendig zu machen. Schon als der Zusammenbruch der Kampffront unausbleiblich schien, erging hier der Ruf nach den Nationalwahlen. Denn schon damals war es sichtbar, daß ein Neuaufbau notwendig geworden. Ein neuer Reichstag hätte nur Flickwerk leisten können. Das Große, Werdende, Neue vermochte nur eine völlig neugestaltete Volksvertretung zu schaffen. Als aber nun der Sturm der Revolution Kaisertum und bundesstaatliche Fürstengewalt hinwegfegte, da blieb erst recht als letzter Rettungsanker für die Erhaltung des Reiches und seiner Einheit die sofortige Zusammenberufung der Nationalversammlung. Aber der Streit innerhalb der sozialistischen Parteien machte den sozialistischen Inhabern der Regierungsgewalt die Erfüllung dieses heißesten Wunsches des deutschen Volkes unmöglich. Immer wieder wurde der Termin für die Wahlen hinausgeschoben. Und die Mehrheitssozialdemokraten konnten den Verhältnissen nur mit äußerster Anstrengung schließlich das Zugeständnis des 19. Januars abringen.
Dieser Termin ist viel zu spät, auch für die sozialdemokratische Mehrheitspartei. Denn der deutschen Nationalversammlung [gemeint war wohl eher „Sozialdemokratie“] wäre aller Wahrscheinlichkeit nach die Mehrzahl der Stimmen in der deutschen Nationalversammlung sicher gewesen, wenn sie schon im November oder Dezember Wahlen ausgeschrieben hätte. Das Bürgertum war gelähmt durch die Überraschung. Es erkannte außerdem das Verdienst der sozialdemokratischen Regierungsmitglieder an, die an Stellen des drohenden Chaos wenigstens jenes Mindestmaß revolutionärer Ordnung geschaffen hatten, das in den Tagen heilloser Verwirrung überhaupt möglich war. Die Grenzen zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie waren damals verwischt. Ein großer sozialdemokratischer Wahlsieg war sicher zu erwarten. Alles, was inzwischen geschehen ist, war sicher nur zu sehr geeignet, der Sozialdemokratie Abbruch zu tun. Das ist für das Bürgertum gewiß kein Unglück. Aber die Sozialdemokratie, insbesondere die sozialistische gesinnte Arbeiterschaft, mag sich dafür bei jenen Sozialdemokraten bedanken, die den Bogen überspannen und die Ergebnisse der Revolution allein für eine Klasse in Anspruch nehmen wollten.
Die Nationalversammlung wird, wenn nicht alle Zeichen trügen, keine sozialdemokratische Parteimehrheit aufweisen. Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte freilich die sozialdemokratische Fraktion als die bei weitem stärkste aus den Wahlen hervorgehen. Aber sie wird zu Mehrheitsbildung immer die bürgerlichen Parteien heranziehen müssen, zumal es mehr als zweifelhaft ist, ob die geringe Zahl der Abgeordneten von der Unabhängigen Sozialdemokratie mit der Mehrheitspartei dauernd gemeinsame Politik treiben will. Die Vorgänge der letzten Woche würden wahrscheinlich den sozialdemokratischen Parteien, zumal in den Städten, besonders schweren Abbruch tun, wenn für sie nicht der Zustrom jugendlicher Wähler einen Ausgleich schüfe.
Diese voraussichtliche Parteilage in der kommenden Nationalversammlung stellt den bürgerlichen Parteien ganz besondere Aufgaben. Sie werden in viel höherem Maße als sie erst erwarten durften, an dem Neubau des Reiches beteiligt sein. Sie werden nicht bloß zu verhindern, sondern auch selbst mitzugestalten haben. In Anbetracht der Gesamtstärke der bürgerlichen Parteien kann leicht der Glaube entstehen, daß die gegebene Konstellation die ein fürallemal geltende Zusammenfassung aller Bürgerlichen im Gegensatz zur Sozialdemokratie wäre. […]
Quelle:
Vossische Zeitung vom 19.01.1919, Nr. 34 Sonntagsausgabe, S.1f
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27112366-19190119-0-0-0-0.xml
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Bernhard#/media/File:Bundesarchiv_Bild_102-06068,_Georg_Bernhard.jpg