Harry Graf Kessler: "Jeder Mensch sein eigener Fussball"
Kessler schreibt über die Pläne der Avantgardekünstler Herzfeld & Grosz eine Zeitschrift herauszugeben, die sich kabarettistisch mit dem Zeitgeschehen beschäftigen soll. Der Kunstmäzen Kessler wird um Rat gebeten.
Volltext:
28 Januar 1919. Dienstag. Berlin.
Wieland Herzfelde frühstückte bei mir. Er zeigte Probebogen seiner Zeitschrift mit einer Phantasie von Grosz „Jeder Mensch sein eigener Fussball“; der Komik und des Aufsehens wegen riet ich ihm, diese Überschrift vorläufig als Titel zu wählen. Er will die erste Nummer durch Strassenverkäufer, Soldaten, Studenten in Droschken, auf Autos, jahrmarktschreierisch an den Mann bringen. Sie soll einen halb grotesken, halb ernsten Inhalt haben. Grosz wird Hauptmitarbeiter und will z. B. eine Serie „Der schöne deutsche Mann" veröffentlichen. Als ihr gemeinsames Hauptziel bezeichnete Herzfelde, „Alles was den Deutschen bisher lieb gewesen sei, in den Dreck zu treten“, d. h. alle abgelebten „Ideale“, um freie Bahn und frische Luft zu schaffen. In der Auswärtigen Politik bat er um Fingerzeige, da er davon zu wenig verstehe. Ich sagte ihm ungefähr meine Ideen, die er als „sehr sympathisch“ annahm. Das Ganze ist ein Aristophaneskes Unternehmen, das die Geister in Bewegung halten kann; zuwider jeder Form des „Pompier“-haften, der abgelebten Tradition, dem unantastbaren „Grossen Mann", der sacrosancten Dummheit und Dumpfheit auch im radikalen Lager. Sein Manifest „Nein, Karl Marx“ ist ein Anfang. Viel Kinderei, aus der aber ein frischer Wind weht. – Die Sache Drach ist im Sande verlaufen, da, wie Herzfelde sagt, der Hauptbelastungszeuge Cassirer fortblieb, andrerseits aber die „Freiheit“ ihre Beschuldigung nicht zurücknimmt. – Abends Sitzung des Klubs vom 16ten Nov. Der Geh. Rat Wiedenfeld gab ein Referat über Sozialisierung, im Wesentlichen auf Karl Marx aufbauend. Meyer erzählte mir, dass die 5te aktive Division, die gegen die Polen geschickt war, sich „infolge von Verhetzung“ wieder aufgelöst habe.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 114 f.
Bild 1:
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Bild 2:
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