Harry Graf Kessler: Welch ein wedekindscher Schluss für Liebknecht & Luxemburg!
Kessler berichtet von den Geschehnissen rund um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Anschließend geht er ins Theater und zieht Vergleiche zwischen dem Stück und Liebknecht, der wie ihm eine Kunstfigur vorkommt. Außerdem schildert er die Unruhen in der Stadt, die zu einigen Beeinträchtigungen geführt haben.
Volltext:
16 Januar 1919. Donnerstag. Berlin
Liebknecht, und angeblich auch Rosa Luxemburg, sind gestern Nacht verhaftet worden. - Liebknecht und Rosa Luxemburg haben ein furchtbares und phantastisches Ende genommen. Mittags bringt die B.Z. die Nachricht!! Liebknecht ist vorige Nacht auf dem Transport durch den Tiergarten, bei einem angeblichen Fluchtversuch, von hinten totgeschossen worden; Rosa Luxemburg hat die Menge im Eden Hotel, wo sie beim Stabe der Garde Kavallerie-Schützen-Division vernommen worden war, bewusstlos geschlagen, und dann, als sie im Auto fortgebracht wurde, an der Brücke über den Kanal zwischen Kurfürstendamm und Hitzigstrasse aus dem Wagen heraus geholt und angeblich getötet; ihr Körper soll verschwunden sein. Bei der Art, wie Liebknecht umgekommen ist, muss ich an meine mexikanischen Erinnerungen und die „Ley Fuga“? denken. Rosa Luxemburg könnte nach dem, was bisher bekannt ist, auch von Parteigenossen befreit und in Sicherheit gebracht worden sein. – Blumenreich brachte das Blatt der B.Z. mit den beiden Nach richten bei Paul Cassirer herein. Nicht der Tod selbst, aber die Art des Todes wirkte konsternierend. Sie haben durch den Bürgerkrieg, den sie angezettelt haben, so viele Leben auf dem Gewissen, dass an sich ihr gewaltsames Ende sozusagen logisch erscheint. – Abends Wedekinds „Musik“ im Theater an der Königgrätzerstrasse. Das Haus trotz der Unruhen gut besetzt. Das Stück im Grotesk-Tragischen, als Anlauf zu Umwertungen, interessant, aber skizzenhaft: namentlich ist der letzte Akt, der die Höhe anstrebt, dünn und trocken, litteratenhaft, statt menschlich; mehr ein Einfall als eine Schöpfung. Diese Wedekindsche, überhaupt Berlinische Kafé des Westens Welt mit ihren kühn gemeinten, fragmentarischen, etwas schwach-geistigen und naïven Tastversuchen nach neuer Ethik ist die, aus der Liebknecht zu verstehen ist. Für eine Weltrevolution ist das Alles zu wenig, zu unreif, nicht menschlich und überzeugend genug. Liebknecht könnte aus einem Wedekindschen Stück entsprungen sein; er hatte das närrisch Revolutionäre, Don Quichottehaft Abenteuerliche, Predikantenhafte, echt Humane, aber um jeden Preis Sensationelle des typischen Wedekindschen Raisonneurs: die Wedekindsche Mischung. Jetzt dieser grässliche Tod im Tiergarten Nachts am Neuen See erschossen von eigenen Transporteuren, ist ein echt Wedekindscher Schluss. - Als ich bald nach 10 am Halleschen Ufer nachhause gieng wurde dort wieder geknallt. Jetzt schiesst es und knattert es, seitdem ich zuhause bin, am Hafen platz und in der Nähe meines Hauses fortwährend: 10,35 ein Maschinengewehr, 10,40 lebhaftes Feuergefecht, 10,45 Maschinengewehr, 11 heftiges Maschinengewehrfeuer. u.s.w. Dabei sind seit heute alle Brücken in Berlin militärisch besetzt, die Stadtteile gegeneinander abgesperrt; Jeder der durch will, wird angehalten und auf Waffen untersucht, auch in den Elektrischen. Gestern sind Käte Dunker, Franz Pfemfert mit seiner Frau!, Carl Einstein mit seiner Frau, selbst Kautsky von den Regierungstruppen verhaftet worden; von Hunderten von Unbekannten zu schweigen. Es herrscht eine Art von weissem Terror, der dem Terror der Spartakus Banden entgegenwirkt. Trotzdem hört das Schiessen in den Strassen nicht auf.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 97 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rosa_Luxemburg#/media/File:Grab_liebknecht_luxemburg.jpg