Jugend, übe Deine Schwingen und wage den Flug ins neue weite Land!
Die erste Ausgabe der von dem Reformpädagogen Gustav Wyneken herausgegebenen Zeitschrift "Der neue Anfang" widmete sich ganz den Auswirkungen der Revolution auf die Jugend. Die folgende "Revolutionspredigt" veranschaulicht zugleich Geist und Sprache der damaligen bürgerlichen Jugendbewegung sowie die Hoffnungen, welche in eine Neugestaltung der Schulen gesetzt wurden.
Volltext:
Revolutionspredigt
eines Zwanzigjährigen an seine jüngeren Kameraden in den Tagen der Regierungserlasse, die auch den Schülern weitgehendes Selbstbestimmungsrecht einräumen.
Kameraden, Eure Bravheit ist zum Heulen! Jetzt wo die Tore zur Freiheit offen stehen, wo es nur gilt von ihr Besitz zu ergreifen, sie sinnvoll zu gestalten und fruchtbar werden zu lassen, jetzt steht ihr und wehrt euch gegen die neue Freiheit!
Ach, soweit hat man euch gebracht, daß ihr nicht einmal mehr den Mut dazu habt. Sondern seid wie jene jungen Adler, die man im Käfig aufgezogen hatte mit Milch und Brötchen. Und die, als der Besitzer starb und der Erbe die Tore des Käfigs öffnete, sich verkrochen hinter den Freßnäpfen und ängstlich zitterten und von Schwindel ergriffen wurden.
Auf, Kameraden, wischt euch den Schlaf aus den Augen! Übt eure Schwingen und wagt den Flug ins neue weite Land!
Ihr schlagt die Augen nieder? Ihr zögert? Durchschaue ich euch? Fort mit der Maske der Bravheit und mit der scheinheiligen Geste guter Erziehung! Seid ihr zu faul für die neue Zeit? Lässig und träge laßt ihr euch lieber gefesselt mit verbundenen Augen und geknebeltem Mund zur Krippe führen, wo man euch in mundgerechten Bissen verfälschte Nahrung vorsetzt, als daß ihr mutig den neuen Weg wagtet. Ihr spürt wohl, daß er nicht ohne Gefahr ist, denn er geht in unbekanntes Neuland und keine Wegweiser nehmen euch die Mühe eigenen Suchens ab!
Ich weiß, es ist nur zum Teil eigene Schuld, die euch jetzt so hilflos sein läßt: Von Klein an hielt man euch in den engen Schranken der Familie zurück. Ihre Begrenztheit lehrte man euch als Ideal, denn nur zu gut wittern Eltern und Erzieher, daß der Geist der Tage, des Kompromisses und der Bequemlichkeit, der sich in ihnen festgenistet hat, gefährdet ist, wenn, ihr Junge, euch zusammenfindet und im gemeinsamen Erlebnis eurer Not die vereinten Kräfte wachsen zu sieghaftem Ansturm und dem Wagnis eigener Lebensgestaltung. -
Wie ging es uns doch? Es ist noch garnicht so lange her. Wir waren Obertertianer an einer Schule in der manch freierer Zug zu spüren war. Aber neben Lehrern, die ihr möglichstes taten, die Jugend und ihr Leben in dem tötenden System nicht ganz zu verraten, gab es andere, die im Gefühl ihrer unbedingten Macht uns Junge wie Sklaven hielten, die uns quälten mit tausend feinen Foltern der Ungerechtigkeit, des Spottes und der überlegenen Geste unantastbarer Tyrannen. Berichte vor dem Direktor blieben erfolglos, ja wurden ganz verboten und bald sahen wir, daß wir von keiner Seite Hilfe zu erwarten hatten, denn auch die Eltern stellten sich auf die Seite unserer Bedrücker – denn sie fürchteten den aussichtslosen Kampf.
Hört, Freunde, wie weit uns der Zustand der absoluten Rechtlosigkeit trieb: Die Wackersten unter uns verschworen sich zu geheimem Bund. - In der frühen Dunkelheit jener Wintertage schlichen wir in das Schulgebäude, ein kleines Dutzend entschlossener Freiheitskämpfer. Mit Blendlaternen und Werkzeug wohl versehen. Brachen in die Klassenräume ein, schraubten die Bänke von den Eisenschienen und türmten sie aufeinander, schmissen die Schrauben weg, zerschlugen die Thermometer, brachten die Schultafeln in Unordnung, schraubten die Verschlüsse von Wasserleitungen und Heizkörpern los, sodaß am nächsten Morgen große Überschwemmungen waren, wir verstreuten den Inhalt der Papierkörbe auf den Gängen. Unermüdliches Arbeiten einer verzweifelten Schar Entrechteter!
So waren wir unter dem alten System der Rechtlosigkeit zu Einbrechern geworden.
Was wir bezweckten? Es war wie ein heiliger Wahnsinn über uns gekommen, dem Recht zum Siege zu verhelfen. Oder doch wenigstens diese ruhelose Sicherheit unserer Lehrer zu gefährden und zu beunruhigen.
Ihr erschreckt Kameraden? Fragt, warum ich das erzähle? Gewiß nicht, um euch zu gleichem Tun aufzurufen. Aber den gleichen unbedingten Willen, der Wahrheit und dem Recht zum Siege zu verhelfen wie er damals in uns lebendig war, den wünsche ich euch! Und dieselbe unbedingte Kameradschaft, wie sie unter unserer kleinen Schar lebte, die wünsche ich euch auch! Wo es die Wahrheit galt, stand einer zum andern und das Unrecht, das einem zugefügt wurde, brannte allen gleich stark im Herzen.
[…]
Der erste Ansturm gelte der Schule, die eure besten Kräfte fordert. Sie muß von Grund aus von einem neuen Geiste beseelt werden.
Kameraden, wann soll das geschehen, wenn nicht in dieser Zeit der Revolution! Die Schule muß das Reich der Jugend werden. Durch Schülerräte und freie Aussprachen zwischen Lehrern und Schülern in regelmäßiger Versammlung (Schulgemeinde) werde die Wahrheit gefördert und jede Furcht aus den Mauern der Schule vertrieben! Es falle das alte System der erlogenen Autorität, die auf Macht und Unterdrückung begründet ist. An seine Stelle trete die freie offene Kameradschaft zwischen Lehrenden und Lernenden, die sich, so hoffen wir, recht oft zu einer tiefen Freundschaft steigern soll.
Gewiß kann der neue Geist nicht von heute auf morgen verwirklicht sein. Aber jeder Tag muß uns in unermüdlicher Arbeit diesem Ziele näher bringen.
Solange die Schule aber noch nicht zu einem Heim der Jugend geworden ist, wollen wir unser Leben außerhalb der Schule so reich und sinnvoll wie nur möglich bauen. Schließt euch zusammen zu Freundschaftskreisen (Gemeinschaften) und Arbeitsgruppen. Geht in die Wälder, befreit auch den Körper von dem Druck der Schulstube. Kommt zusammen in Sprechsälen zur gemeinsamen Aussprache über alle die Fragen, die in euch drängen. Leicht werden sich hier neue engere Kreise zusammenfinden, in denen intensivere Arbeit geleistet werden kann. Verachtet die Schranken, die man zwischen euch und euren Brüdern, den jungen Arbeitern errichtet hat, damit ihr nicht die Schuld der sozialen Ungerechtigkeit sehen solltet.
Schaut um euch: wo Menschen mit einem ungebrochenen Willen zu wahrem adeligen Sein leben, da ist Jugend.
Jugend aller Kreise vereinige dich! h.k
Quelle:
Der neue Anfang. Zeitschrift der Jugend, Nr. 1 / Jg. 1 vom 1.1.1919
In: http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/cm/periodical/titleinfo/2710056
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Wyneken#/media/File:Gustav_Wyneken.png