Sozialisierungen: Ein Gebot der Stunde?
Die Revolution und der Regierungsantritt der sozialistischen Parteien hatte bei deren Anhängern große Erwartungen über baldige Sozialisierungsmaßnahmen erzeugt. Schließlich waren diese fester Teil der marxistischen Gedankenwelt. Einmal an der Macht mussten aber auch überzeugte Sozialisierung-Apostel einsehen, dass Verstaatlichungen angesichts der vielfältigen wirtschaftlichen Probleme kein Allheilmittel sein konnten und dementsprechend behutsam realisiert werden mussten - wenn überhaupt. Die Sozialistischen Monatshefte sehen sich ob dieser Entwicklung bestätigt und fordern Sozialisierungen im Kleinen. Zuerst müsste die kommunale Infrastruktur auf diese Weise gestärkt werden. Über Sozialisierungen im Bergbau oder Bankenwesen würde sich höchstens die Entente freuen, die dann das volkswirtschaftliche Tafelsilber Deutschlands einsacken könnte.
Volltext:
Der Sozialisierungsprozeß ist in der Zeitschrift seit ihrem Bestehen verfolgt und zur Darstellung gebracht worden, während die angeblichen Marxisten es abgelehnt und verspottet haben in der Verstaatlichung, Kommunalisierung und Genossenschaftsbildung eine sozialistische Entwicklung zu erkennen. Nach der Revolution aber, nachdem die sozialistischen Parteien die politische Macht ergriffen hatten, wurden die Marxisten plötzlich vor die Verpflichtung gestellt die „Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln: Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel, in gesellschaftliches Eigentum“ vorzunehmen. Denn die Produktivkräfte sollten ja bereits „der heutigen Gesellschaft über den Kopf gewachsen“, das Privateigentum an Produktionsmitteln sollte unvereinbar geworden sein „mit deren zweckentsprechender Anwendung und voller Entwicklung“. Die Beauftragten der Arbeiter- und Soldatenräte von Dresden, Leipzig und Chemnitz (unter denen sich auch Mehrheitssozialisten befanden) haben denn auch, in Konsequenz des Erfurter Programms, sofort nach der Revolution einen Aufruf an das sächsische Volk erlassen, in dem der Zusammenbruch des kapitalistischen Systems konstatiert und die Verwirklichung des Sozialismus angekündigt wird. Dann heißt es wörtlich: „Verwirklichung des Sozialismus heißt Verwandlung der kapitalistischen Produktion in gesellschaftliche, Enteignung des Privateigentums an Grund und Boden, Berg- und Hüttenwerke, Rohstoffen, Banken, Maschinen, Verkehrsmittel usw., Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische, Übernahme der Produktion durch das Proletariat.“ Das war aus dem Parteiprogramm abgeschrieben, erregte indessen den größten Unwillen der sozialistischen Presse Sachsens.
Die sächsische Regierung, der 3 Mitglieder der Partei der Unabhängigen Sozialdemokraten angehören, erließ am 18. November einen Aufruf an das sächsische Volk, in dem es unter anderm hieß: „Die Beseitigung jedes auf Ausbeute beruhenden Einkommens ist zu erstreben, desgleichen die Vergesellschaftung der dazu geeigneten kapitalistischen Unternehmungen in Landwirtschaft, Industrie, Handel und Verkehr.“ Die Reichsregierung setzte eine Kommission ein, die die Aufgabe erhielt zu untersuchen, wie die Sozialisierung durchgeführt werden könne. Und diese Kommission, der 3 entschiedene Vertreter des Marxismus angehören, kam zu dem Ergebnis, daß gar nichts anderes geschehen könne als die sozialistische Entwicklung zu fördern, die bisher schon in der kapitalistischen Gesellschaft zutage getreten ist. In einer programmatischen Erklärung dieser Kommission heißt es: „Die Kommission für die Sozialisierung ist sich bewusst, daß die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nur in einem länger währenden organischen Aufbau erfolgen kann.“ Also in einer lange währenden Entwicklung: was wir bisher stets betont haben. Die Kommission ist ferner der Ansicht, daß für die Exportindustrie und den auswärtigen Handel die bisherige Organisation gegenwärtig noch beibehalten werden müsse. In die bisherigen Besitz- und Betriebsverhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung dürfe nicht eingegriffen werden. „Hier soll durch der Landwirtschaft angepasste Maßnahmen und durch Unterstützung der Genossenschaften die Produktivität gehoben und die Intensität gesteigert werden.“ Dagegen ist die Kommission der Ansicht, daß jene Gebiete der Volkswirtschaft, in denen sich kapitalistisch-monopolistische Herrschaftsverhältnisse herausgebildet haben, „für die Sozialisierung in erster Linie in Betracht kommen.“ Insbesondere müsse der Gesamtheit die Verfügung über die wichtigsten Rohstoffe, wie Kohle und Eisen zustehen. Auch sei zu prüfen, ob die Hypothekenbanken und das Versicherungswesen für die Sozialisierung in Betracht kommen. Schließlich wird noch gesagt: „Die Kommission ist der Ansicht, daß es von der Natur der Wirtschaftszweige abhängt, welche Maßnahmen für die Sozialisierung am geeignetsten erscheinen, ob die Verfügung dem Reich, den Kommunen oder anderen Selbstverwaltungkörpern zustehen soll, oder ob für einzelne Produktionszweige die Ausdehnung der Eigenproduktion der Genossenschaften das geeignete Mittel der Ausschaltung des kapitalistischen Profits darstellt.“
Das ist im wesentlichen das Programm, das bisher und lange Zeit hindurch fast nur in den Sozialistischen Monatsheften vertreten wurde. Diese Sozialisierung ist aber auch selbst nichts Neues sondern schon lange im Fluß. Auch die Verstaatlichung des Bergbaus (das zunächst Zweckmäßige wäre eine Verstaatlichung des Kohlenhandels) und des Versicherungswesens sind seit längerer Zeit geplant gewesen.
Mit großer Mehrheit hat nun auch der Kongreß der Delegierten der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands am 20. Dezember 1918 einen Antrag angenommen, in dem die Regierung beauftragt wird mit der Sozialisierung aller dazu geeigneten Industrieen, insbesondere des Bergbaus, unverzüglich zu beginnen. Aber daß die Sozialisierung nicht durch Dekrete sondern, wie es notwendig ist, nur durch eine gesetzliche Regelung im zukünftigen Reichsparlament vorgenommen werden kann, ist ganz selbstverständlich. Der Staatssekretär des Reichswirtschaftsamtes, Genosse August Müller, führte in einem Vortrag vor Pressevertretern am 28. Dezember folgendes aus: Dem Willen zur Sozialisierung seien durch die weltwirtschaftlichen Verhältnisse Grenzen gesetzt. Für das Reichswirtschaftsamt gebe es nur einen Grundsatz: Welche Wirtschaftsform ist vom Standpunkt der Allgemeinheit rationeller? Im Augenblick seien Verstaatlichungsexperimente besonders unangebracht, weil die Entente erklärt habe, daß sie das Privateigentum in Deutschland respektieren werde, während sie jede Art von Staatseigentum als Pfand für ihre Forderungen betrachte. Deshalb könne auch von einer sofortigen Verstaatlichung des Kohlenbergbaus vernünftigerweise gar keine Rede sein. Das schließe natürlich nicht aus, daß man eine immer größere allmähliche Ausdehnung der genossenschaftlichen, kommunalen und staatlichen Gemeinwirtschaft für die Zukunft zu erwarten habe. Diesen Ausführungen Müllers wird man durchaus zustimmen können.
Das Problem der Sozialisierung bleibt also das selbe, was es bisher war, nur daß die vorwärtstreibenden Kräfte nun stärker geworden sind und die Ausgestaltung der verstaatlichten und kommunalisierten Betriebe im sozialistischen Geist nun besser und rascher vor sich gehen kann. Aber eine größere Beachtung hätten die öffentlichrechtliche Elektrizitätsversorgung, die Wasserwirtschaft und die staatlich-kommunale Lebensmittelversorgung, als die ersten und wichtigsten Aufgaben der Sozialisierung, verdient. Das wird hoffentlich in der neuen Volksvertretung geschehen, die sich mit der Sozialisierung befassen muß.
Quelle:
Sozialistische Monatshefte vom 20. Januar 1919, S. 39f.
In: http://library.fes.de/sozmon/pdf/1919/1919-01-20.pdf
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Marx#/media/File:Karl_Marx_001.jpg