Thomas Mann: Deutschland “ließ sich niederschießen”!
Mann macht sich Gedanken über sein noch unvollständiges Werk und beschließt Änderungen. Er schreibt von der “steifnackigen” Regierung, die Truppen in Berlin zusammenzieht. Außerdem hat er Angst vor einem neuen Krieg, wer auch immer den dann anzetteln mag. Er macht jedoch Deutschland dafür verantwortlich, da es sich “niederschießen ließ”.
Volltext:
Mittwoch den 8.1.
Martens schickte einen Brief von Ponten, dem Verfasser des »Babyl. Turms«, worin dieser ihn bittet, mir Gutes auszurichten. Freute mich und will es beantworten. - Gestern hat es hier Tote gegeben. - Arbeit am Gedicht. Nicht nur die Prosa, auch die poetische Trivialität liegt nahe: Der Stelle mit dem welken Blatt schämte ich mich nachher so, daß ich beschloß, Anderes, hoffentlich Besseres dafür einzusetzen. – Mittags eine ganze Stunde bei Gosch. Nach Tische Simplicissimus, worin recht komische Dinge aus der Revolution und Zeitungen. Hatte schlecht geschlafen, nachmittags zu Bette. K. bei Frau Prof. Bonn zu einer Damenversammlung, in der Fr. Dr. Kempf, die National-Kandidatin, sympathisch gesprochen haben soll. Gegen die Pazifisten. Und nicht die Führer hätten versagt, sondern die Nation, physisch, aber auch moralisch. Sehr wahr. – Nach dem Thee korrespondiert. Blei schickte neues Heft der »Rettung«. In Berlin gewaltige Kämpfe, mit Artillerie, Flammenwerfern und allem Zubehör. Wo bleiben die » Liebenden«? Aber es wird für die Liebe gemetzelt. Die Regierung scheint steifnackig. Immer neue Truppen u. Artillerie werden nach Berlin gezogen. - Mehrfach beim Kindchen und sehr beglückt. – Auf dem Abendgang gearbeitet. – Abends »Rettung« und Tolstoi. – In Dortmund hat man die Jungfrau v. Orleans « und den »Prinzen von Homburg« vom Spielplan abgesetzt, um die Mehrheit des Publikums nicht in seinen politischen Empfindungen zu beleidigen. Ich freute mich längst auf die neue Censur. Es hatte unzweifelhaft mehr gesellschaftlichen Sinn, die »Büchse der Pandora« nicht öffentlich zu spielen. - - Der Pazifismus! Der Völkerbund! Der nächste Krieg steht schon vor der Thür, das fühlt man, auch ohne zu wissen, wer ihn führen wird. H. erklärte vor dem Kriege tragisch, er habe »jetzt keinen Einfluß«. Hat er jetzt welchen? Daß es aber weitergehen wird, wie es gehen wird, das ist Deutschlands Schuld, das sich niederschreien ließ und nicht aufrecht blieb, zermürbt von dem » Einfluß«, den Geister wie H. thatsächlich hatten.
Quelle:
de Mendelssohn, Peter (Hrsg.), Thomas Mann. Tagebücher 1918-1921, Frankfurt am Main 1979, S. 129 f.
Bild:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/c/c5/Flag_of_the_League_of_Nations_%281939%29.svg/800px-Flag_of_the_League_of_Nations_%281939%29.svg.png