Victor Klemperer: Der Winter ist eine dunkle Zeit
Klemperer schreibt über sein Missfallen dem Winter gegenüber und berichtet von seinen Tagesabläufen, die ihn an die Bibliothek fesseln. Zum Schluss beschreibt er Karikaturen aus dem Simplicissimus.
Volltext:
Sonnabend Abend gegen ½ 8 4 Januar 19.
Seit gestern stehe ich um 7 Uhr auf u. merke nun zum erstenmal die Dunkelheit des Winters. Um 8 tritt Gassperre ein, u. erst um ½ 9 läßt sich am Fenster mühsam etwas entziffern. Die Zwischenzeit füllt das Frühstück ... Von 12-2 sitze ich im kleinen Lesesaal der Bibliothek. Immer wieder kämpfe ich mit dem Schlaf, immer wieder raffe ich mich. Nachmittags dann zwischen ½ 5 u. ½ 8 wieder hier Lectüre. Ich stehe im 4. Bd Lotheissen, habe Rotrou's Saint Genest gelesen, Somaize's Dictionnaire des Précieuses durchblättert, mit Enttäuschung in den Tragiques gestöbert; sie sind mir zu rhetorisch. Es ist mir noch immer fraglich, ob es mir gelingen wird, auch nur ein halbes Dutzend Collegstunden wirklich vorzubereiten.
[...]
Das deutsche Chaos, besonders im Osten, nahm ich als etwas Selbstverständliches hin ... Auch der »Simplicissimus« scheint der Revolution müde zu werden. Gestern zwei treffliche Bilder. »Liebknecht II« auf einem Bajonett-gespickten Automobil: »Ich führe Euch herrlichen Zeiten entgegen; wer gegen mich ist, den zerschmettere ich!« Und Mühsam auf rotem Divan zur Manicure: »Maniküren Sie mir Schwielen an die Hände, ich bin jetzt im Arbeiterrrat!«
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 45.