Weltbühne: "Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!"
In der Weltbühne setzt sich Ludwig Jurisch im neuen Jahr äußerst kritisch mit der in seinen Augen harmlosen und biederen Revolution auseinander. Gefordert wird vom Sozialismus nun eine Neuerfindung des Daseins der Menschheit und das mutige Entgegentreten gegen mögliche gegenrevolutionäre Bestrebungen.
Volltext:
Der Artikel an dieser Stelle wird fortan allwöchentlich, wieder von ein und derselben Feder niedergeschrieben, politische Ereignisse zergliedern und revolutionäre Forderungen verfechten, kulturelle Angelegenheiten fördern und menschliche Dinge menschlich betrachten. Eine Feder taugt in stürmischen Zeiten nur als Ersatz für eine Flinte, und unmittelbarste Wirkung zu wecken, ist auch der Sinn dieser Artikel. Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!
In der Richtung menschlicher Aufwärtsentwicklung Wirkung wecken kann nur heißen: die Revolution vorwärtstreiben, mit Zuruf, wenn es ausreicht, mit Ruten, wenn es nicht vom Fleck geht, mit Skorpionen, wenn nicht andres verfängt. Denn niemals ist Stillstand so sehr Versumpfung wie in den Geburtswehen einer neuen Zeit, und kein Lebewesen ist in den Epochen großer Umwälzungen gefährlicher als der Revolutionsspießbürger, der im satten Glücksgefühl schwelgt, wie herrlich weit wir es gebracht haben, weil am Rathaus ein roter Wimpel hängt und der die Zipfelmütze tief über die Ohren zieht, sobald das Stichwort Bolschewismus fällt. Aber Bolschewismus hin, Bolschewismus her: bislang war die deutsche Revolution, die die Polizeistunde einhält und die Verkehrsordnung: Rechts gehen! Befolgt, die temperamentloseste und gemütlichste aller Umwälzungen in der Weltgeschichte, und wenn wirklich einmal vorfällt, was nicht unter Punkt I) 1) a) auf der sauber gedruckten Tagesordnung zu lesen steht, heißt es, abseits jedes Angstmeiertums, sich von der alten revolutionären Weisheit durchdringen lassen, daß, um Omelettes zu backen, Eier zerschlagen werden müssen. Und nach der langen, grauen Zeit der Rationierung: Jedem ein Ei! Wollen wir jetzt wirklich ein goldgelbes, schmackhaftes, appetitlich duftendes Omelette, einen wahren Staatseierkuchen backen.
Aber ebensowenig wie der Revolutionsphilister bietet der Revolutionsneurastheniker eine anziehende Erscheinung und ist in seiner Art nicht minder gefährlich. In dem hinter uns liegenden Krieg, wie in jedem, war es das unbestrittene Vorrecht der Etappe, sich, im Gegensatz zur Front, mindestens die Woche einmal durch wilde Gerüchte in wile Panikstimmung schleudern und zum Packen der Koffer und Abbrechen der Zelte bewegen zu lassen. Aber schließlich war sie abgebrüht, und als der Feind wirklich kam, packte sie die Koffer zu spät und brach die Zelte überhaupt nicht ab, und wie morscher Zunder stürtzte das ganze kunstvoll aufgebaute System in sich zusammen. So gehört es zur Etappenpsychologie der Revolution, wenn Zappelphilipps vierundzwanzigmal am Tag durch die Straßen rasen: Die Gegenrevolution ist auf dem Marsch, sie kommt, sie ist schon da! Aber das eine Mal ist es kein kaisertreues Heer, sondern ein in Nebel gehüllter Wald, und zum andern Mal brachte kein monarchistisches Geschütz, sondern ein neutraler Auto-Reifen, und das dritte Mal wurde kein geheimes Waffenlager, sondern nur ein gehamsterter Cognac-Vorrat entdeckt, und wenn, ja, wenn dann in der Tat einmal Gegenrevolution zum Schlage ausholt, bringt auf die Art auch der schrillste Alarmruf keinen Bürger mehr zur Stelle.
Die Gefahr der Verflachung und Versandung droht auch von jenen Seifenfiederseelen, die in der Revolution so etwas wie einen gewaltsam und einseitig abgeschlossenen Tarifvertrag leben. Das Wirtschaftliche in allen Ehren. Auf wirtschaftlichem Unterbau erhebt sich das lustige Gebäude der Ideologien, und aus wirtschaftlicher Quelle rinnen die Wasser, die das Mühlrad der Entwicklung drehen. Aber der Sozialismus hat nicht nur die Aufgabe, die wirtschaftlichen Fronfeste der Menschheit niederzubrechen, und das Sozialistische versteht sich letzten Endes, wie das Moralische beim V-Vischer, von selbst. Sozialismus ist überhaupt nur Mittel zum Zweck. Das große Ziel der Revolution ist: eine neue Welt, ein neuer Geist, ein neuer Mensch, dieses insbesondere: die Wiedergeburt des Menschen. Den der Kapitalismus zum Hebel einer Maschine, der Militarismus zur Ladevorrichtung einer Waffe erniedrigt hatte – der Fabrikant beschäftigte nicht Menschen, sondern soundsoviel „Hände“, der General warf nicht Menschen, sondern soundsoviel „Gewehre“ in die Feuerlinie. Jetzt endlich soll der Mensch wieder Mensch werden, in den Mittelpunkt der Welt treten und Selbstzweck der Schöpfung sein. Und dieser Mensch wird sich keine Kaserne mit kahlem Speisesaal und graugetünchten Schlafsälen errichten, sondern ein Haus mit glitzernden Festräumen und lauschigen Kosezimmern, aus dem muntere Weisen tönen und – aber all das hat Heinrich Heine, nach dem jede deutsche Stadt jetzt eine Straße nennen müßte, viel schöner und programmatischer gesagt: „Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volkes, sondern für die Gottesrechte des Menschen. Wir wollen keine Sansculotten sein, keine frugale Bürger, keine wohlfeile Präsindeten: wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Gemüse: wir dagegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche. Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien.“
Doch ob wir schnellen Blutes sind, wir sind nicht leichten Herzens. Noch ist Herbes zu schlucken. Bitteres herabzuwürgen, und statt uns an Nektar und Ambrosia zu berauschen, müssen wir vorderhand noch mit K-Brot und Kohlrüben vorlieb nehmen. Der Entente-Imperialismus sinnt im Sieg nicht Gutes, und vielleicht wird, mit Lebensmittelnot, Rohstoffmangel und Arbeitslosigkeit, der Friede noch Schrecklicheres im Schoße bergen als selbst der Krieg. Aber das deutsche Volk, das die Zerrüttung des Dreißigjährigen Krieges, die Erniedrigung der napoleonischen Herrschaft, das Elend der Kleinstaaterei, ja, sogar siebenundvierzig Jahre die Lüge des bismärckischen Reichs ertragen hat, ohne moralisch zu Grunde zu gehen – dieses Volk ist unverwüstlich, und welches Chaos auch noch kommen mag: ein Kosmos wird ihm doch entsteigen. Darum Kopfhänger bei Seite, Schwarzseher aus dem Weg!
Schlage die Trommel und fürchte dich nicht!
Quelle:
Die Weltbühne vom 02. Januar 1919, 1:15 (1919), S. 1-3.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Weltb%C3%BChne#/media/File:WBUmschlag12_03_1929.jpg