Il est un peu gogo!
Harry Graf Kessler berichtet über seine Eindrücke aus der Nationalversammlung und kritisiert die Rede des Außenministers Hermann Müller, der spätere Reichskanzler, der in warmen Worten über Frankreich sprach. Durch seinen aktuellen Mitbewohner der Journalist Victor Naumann erhofft er sich Chancen auf einen Job in Brüssel. Als Gesandter, nicht als Mitarbeiter der EU, versteht sich.
Volltext:
23 Juli 1919. Mittwoch Weimar.
Victor Naumann wohnt wieder bei mir. Vormittags in Nat Vers. Programm Reden des Ministerpräsidenten Bauer und des Aussenministers Hermann Müller. Bauers Rede, von Ulrich Rauscher gemacht, recht gut und wirkungsvoll. Sachlich kündigt sie einen mir höchst widerwärtigen Staatssozialismus an. Müllers Rede schwach und farblos. Den einzigen etwas wärmeren Ton traf er, als er von Frankreich sprach; für einen deutschen Aussenminister im Augenblick, wo uns Frankreich den Fuss auf den Nacken setzt, etwas merkwürdig. Alle, die ich sprach, waren von Müllers Rede und Auftreten enttäuscht. Ich habe von der Unterredung, die ich mit ihm hatte, den Eindruck eines etwas naïven, anständigen und frischen jungen Mannes, etwa von der Sorte, die ein solides mittleres Handlungshaus anständig leiten könnte. Er ist auch fühlbar verlegen und unsicher im persönlichen Verkehr. Unsere Aussenpolitik wird unter ihm keine grossen Taten vollbringen. Il est un peu gogo! Wird sich mit der Zeit zweifellos auch von seiner eigenen Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit überzeugen lassen, obwohl er vorläufig noch bescheiden ist. Meinem Völkerbunde, den er aus der „Voss“ kennt, steht er, wie er sagt, sympathisch gegenüber. – Abends assen Vandevelde, der seit kurzem wieder hier ist, Victor Naumann bei mir. Naumann, der mich als Gesandten in Brüssel in Vorschlag gebracht hat, sagt Haniel u. Rosenberg stünden dieser Ernennung sehr sympathisch gegenüber. Vandevelde war von dem Gedanken begeistert. Verspricht allerlei Unterstützung und Empfehlungen; namentlich an Lefébure, den Sekretär des Königs? Naumann an die Königin durch ihre Mutter.
Quelle:
Reinthal, Angela (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Siebter Band 1919-1923, Stuttgart 2004, S. 250 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Graf_Kessler#/media/Datei:Harry_Graf_Kessler,_1917.jpg