Man(n) fällt in Verzweiflung
Thomas Mann berichtet von sehr schwülem Wetter, das ihm zusetzt und einiges an privater Korrespondenz, die er zu erledigen hat. Das ganze macht ihm zu schaffen. Er vertriebt sich die Zeit mit "Der Untergang des Abendlandes". Das kultur- und demokratiekritische Hauptwerk von Oswald Spengler.
Volltext:
Sonnabend den 5. VII. (Abends)
Nach andauernd sehr kühler, ja kalter Witterung heute plötzlich schwüler Sommer. Schrieb vormittags an den Berliner Nervenarzt, um mir Luft zu verschaffen. Ich ersticke in Briefschulden, verliere die Nerven unter den Dringlichkeiten und Zudringlichkeiten der Welt. Auch über Keller soll für Zürich noch etwas gesagt sein. – Spaziergang in der Schwüle. Nachmittags im Garten geschlafen. Zum Thee Klaus Pr. mit Familie, die gestern in der Arcisstraße angekommen sind. Gewitter, das Abkühlung brachte. Las tagüber fleißig in Spenglers Buch, das mir Staunen und Bewunderung abnötigt. – K. fertigte vormittags einen Jüngling ab, der mich für seine Zeitschrift »zur Überwindung der Klassengegensätze« gewinnen wollte. Einen anderen, am Telephon, fertigte ich brüsk ab. Ernst Bischoff, vom Berl. Ausw. Amt, will mich »halbamtlich« sprechen. Zuschriften, öffentliche und private Anforderungen häufen sich. Geht man ein paar Abende hinter einander aus und kommt spät zu Bett, so fällt man in Verzweiflung.
Quelle:
de Mendelssohn, Peter (Hrsg.), Thomas Mann. Tagebücher 1918-1921, Frankfurt am Main 1979, S. 278.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Untergang_des_Abendlandes#/media/Datei:Bundesarchiv_Bild_183-R06610,_Oswald_Spengler.jpg